München: „Semele“

Premiere: 24. 10. 2013

Emanzipation und Aufklärung

Mit einer Neuproduktion von Händels „Semele“ in der englischen Originalsprache präsentierte das Staatstheater am Gärtnerplatz im Cuvilliéstheater, einer seiner Ausweichspielstätten, nun endlich wieder einmal eine Oper. Eine Oper? Das ist nicht so ganz richtig, andererseits aber auch nicht gänzlich falsch. Bei seiner Uraufführung am 10. 2. 1744 im Londoner Theater Royal Covent Garden wurde das Werk dem Publikum noch als „in der Art eines Oratoriums“ offeriert und in konzertanter Form dargeboten. Es ist nicht auszuschließen, dass der Haller Komponist mit dieser nicht ganz eindeutigen Bezeichnung seiner Komposition den Zweck verfolgte, den seit Heinrich VIII von der Katholischen Kirche entfremdeten Engländern diese Form der Musik wieder etwas näherzubringen, was ihm mit seinen vorangegangenen Oratorien „Israel in Egypt“, „Der Messias“ und „Samson“ bereits trefflich gelungen war. Indes ist der Charakter des „Semele“- Stoffes, den Händel der griechischen Mythologie entnommen hat, der Oper näher als dem Oratorium. Die dramatische Handlung steht im Vordergrund, nicht religiöse Reflexionen. Darüber hinaus wäre für ein Oratorium auch ein biblischer Inhalt erforderlich gewesen. Hier haben wir es aber mit der griechischen Götterwelt zu tun. Die Bezeichnung der „Semele“ als Oper ist mithin durchaus berechtigt.

Jennifer O’ Loughlin (Semele), Ferdinand von Bothmer (Jupiter)

Die Art wie Karoline Gruber an Händels Werk herangeht, ist jedenfalls sehr opernhaft. Diese Regisseurin versteht ihr Handwerk, das muss man sagen. Sie führt die Personen logisch und abwechslungsreich und wartet auch mit ästhetisch schönen Bildern auf, die ihr Roy Spahn auf die Bühne gestellt hat. Diese sind sehr konventioneller Natur und weisen manchmal einen leichten Hang zum Kitschigen auf, so beispielsweise bei den Wölkchen im Olymp, der sich hier ironischerweise direkt über den Dächern Münchens und seiner Frauenkirche befindet und von den Einwohnern der Stadt problemlos in Ballons erreicht werden kann. Andererseits können die dargebotenen visuellen Eindrucke auch recht beeindruckender Natur sein, so wenn das rote Kleid Junos eine riesenhafte Vergrößerung erfährt und auf ihren Flügeln Filmprojektionen ablaufen, die auf recht vergnügliche Weise Semeles behagliches Leben in Jupiters von wallenden Tüchern eingenommenen Palast zeigen. Dabei versteht Frau Gruber die Götter- und die Menschenwelt gekonnt voneinander abzugrenzen. Das Reich von König Cadmus mit seiner Kassettenwand und seinem von Magali Gerberon modern und elegant eingekleideten Hofstaat erschließt sich dem Zuschauer in kargen, kalten Grau-Tönen. Sobald es aber in die himmlischen Sphären von Jupiters Götterreich geht, herrscht behagliche Wärme vermittelnde bunte Vielfalt vor. Die Eindrücke, die sich dem Auge bieten, sind schon recht mannigfaltiger Natur. Sie schließen sowohl romantische als auch skurrile und humoristische Elemente ein, wobei zeitweilig sogar die Grenze zum Surrealen leicht gestreift wird.

Ferdinand von Bothmer (Jupiter), Jennifer O’ Loughlin (Semele), Ann-Katrin Naidu (Ino)

Es ist ein gefälliger äußerer Rahmen, den das Regieteam da auf die Bühne gestellt hat. Dieser will aber auch innovativ gefüllt sein. Und das gelingt Frau Gruber vorzüglich. Das geistige Gewand, das die dem Ganzen überstreift, ist sehr überzeugend. Sie siedelt die Oper rein äußerlich im Zeitalter des ausgehenden 19. Jahrhunderts an, dessen Denkweise sie indes mit derjenigen des Barock identifiziert. Ausgangspunkt ihrer Interpretation ist die Erkenntnis, dass Frauen in beiden Epochen praktisch überhaupt keine Rechte hatten und nachhaltig der Willkür der Männer ausgeliefert waren. In einer solchen Situation befindet sich auch Semele, die auf Befehl ihres Vaters den ungeliebten böotischen Prinzen Athamas heiraten soll. Die zu Beginn stattfindende Massenhochzeit belegt, dass sie nicht die einzige Frau ist, die aus Gründen der Staatsraison einen Mann heiraten soll, der ihr nicht behagt. Das war in Königsfamilien indes schon immer so, sei es nun zur Zeit Händels, im Kaiserreich oder schon bei Alexander dem Großen, der diesen Brauch im Jahre 324 v. Chr. in Susa ins Leben rief. Liebe hat bei solchen Vermählungen nie eine Rolle gespielt. Derartige übergeordnete staatliche Interessen, die echte Zuneigung und individuelle Interessen stets außen vor lassen, findet Semele äußerst fragwürdig. Sie ist mit sich und ihrer Situation unzufrieden, leidet unter Minderwertigkeitskomplexen und sehnt sich danach, der sie einengenden patriarchalisch geprägten Gesellschaft zu entkommen. Sie möchte nicht ihr Leben lang unter der Knute der Männer stehen, was durch eine Reihe Alter Egos der Königstochter in psychologisch einfühlsamer Weise versinnbildlicht wird. In ihrer Not sehnt sie sich Jupiter herbei. Sie „erfindet“ den göttlichen Befreier gleichsam, um von ihm entführt zu werden und auf diese Weise ihre Unabhängigkeit wiederzuerlangen. Hier lässt die Interpretation der Regisseurin deutliche Bezüge zu gängigen Interpretationsmustern von Wagners „Lohengrin“ erkennen. Diese Parallele ist schon vom Wesensgehalt beider Werke her ganz offensichtlich. Elsa und Semele sind gleichsam Schwestern im Geist. Auch zu Strauss „Salome“ gibt es Anklänge. Als symbolisches Zeichen für den ausgeprägten Wunsch der thebanischen Prinzessin nach Freiheit schweben manchmal Schmetterlinge über die Bühne. Diese symbolisieren neben der befreiten Seele aber auch Semeles Verlangen nach der ihr als Mensch nicht zustehenden Unsterblichkeit – eine Hybris, an der sie letzten Endes zugrunde gehen muss. Ihren Tod in den auf ihr weißes Gewand projizierten Flammen begreift Karoline Gruber aber nicht so sehr als tatsächliches, sondern vielmehr als inneres Geschehen, nämlich als das Erlöschen einer Idee.

Jennifer O’ Loughlin (Semele), Adrineh Simonian (Juno), Statisterie

Diese besteht in der Emanzipation der Frau – die Frauenbewegung nahm in der hier dargestellten Wilhelminischen Ära ihren Anfang – und in der Rezeption von Gedankengut der Aufklärung. Hier schlägt die Regisseurin geschickt eine Brücke zur Moderne. Mit den Mitteln des Theaters auf dem Theater wartet sie mit einer ausgeprägten Gesellschaftskritik auf und beleuchtet rigoros den Konflikt zwischen – weiblichem – Individuum und Gemeinschaft. Dabei stellt sie das Nichtfunktionieren der Familie, der Keimzelle der Gesellschaft, als Ursache für kollektive Übel dar. Hier geht es aber nicht nur um die Emanzipation der Frau, sondern allgemein um die Ablegung gesellschaftlicher Bande, das Recht auf persönliche Handlungsfreiheit und um die Gewinnung von Selbstbewusstsein. Insbesondere letzterem Aspekt misst Frau Gruber zentrale Relevanz zu. Das noch zu Barockzeiten vorherrschende Motto, das jeder Mensch seine vorgegebene Bestimmung habe, der er nicht entkommen kann, lehnt sie kategorisch ab und geht gegen jede Form von Fremdbestimmung auf die Barrikaden. Als Mittel dazu dienen ihr die Werte der Aufklärung. Ein Ziel dieser auf Vernunft und Rationalität beruhenden, dem Barock nachfolgenden Epoche war, wie es Dorinda Outram einmal formulierte, „das Individuum von den Fesseln der Tradition oder der willkürlichen Autorität zu befreien“ Um nichts anderes geht es hier, nämlich um das Entkommen des Menschen aus seiner Unmündigkeit, was in etwa auch der Gedankenwelt eines Kant entspricht. Hier erhält die Inszenierung nicht nur einen philosophischen, sondern zudem auch einen gehörigen revolutionären Anstrich. „Sprengt eure Ketten“ lautet die Botschaft der klugen Regisseurin. Mit radikaler, unerbittlicher Konsequenz stellt sie die Option des Aufbegehrens gegen jede Art von Unterdrückung in den Raum, auch wenn man gleich Semele dabei verbrennen und zum Märtyrer werden sollte. Um Freiheit und Unabhängigkeit zu gewinnen, muss man etwas wagen. Verzicht auf das Wagnis bedeutet in gleicher Weise Tod. Hierin ist Karoline Gruber sich mit Max Frischs Stiller einig – genau wie darin, dass Stillstand Rückschritt bedeutet. Damit wäre der Gesellschaft jegliche Entwicklungsmöglichkeit genommen. Und das darf nicht sein. Wie der Einzelne mit seiner wiedergewonnenen Unabhängigkeit umgeht, bleibt ihm selber überlassen. Wichtig ist lediglich, dass er die Möglichkeit dazu bekommt. Das alles wurde von der Regisseurin, die sich gut auf sozialkritische Themen zu verstehen scheint, logisch und verständlich umgesetzt.

Jennifer O’ Loughlin (Semele), Holger Ohlmann (Cadmus)

Dass Marco Comin Händels Oper ein ganz besonderes Anliegen ist, war nicht zu überhören. Der junge Dirigent legte sein ganzes Herzblut in die Musik, die er zusammen mit dem sehr versiert aufspielenden Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz mit hohem emotionalem Ausdruck, sehr leidenschaftlich und intensiv vorwärtsdrängend vor den Ohren des begeisterten Publikums ausbreitete, dass dann beim Schlussapplaus mit herzlichem Beifall auch nicht geizte.

Jennifer O’Loughlin (Semele), Chor

Auch gesanglich konnte man voll zufrieden sein. Jennifer O’ Loughlin war eine darstellerisch glaubhafte Semele, die ihre Rolle mit insgesamt gut verankertem, farbigem Sopran, der ihr nur bei den eklatanten Spitzentönen der Partie dann und wann etwas aus der Focussierung rutschte, auch ansprechend sang. Eine Luxusbesetzung für den Jupiter war Ferdinand von Bothmer. Es ist schon erstaunlich, wie perfekt sich der junge Tenor, der auch schon bei Wagner und Verdi angelangt ist, sich in den Stil Händels einzufügen verstand und seinem bestens gestützten, sonoren Tenor, der bereits deutlich zum jugendlich dramatischen Fach tendiert, auch die für den Göttervater erforderliche Geläufigkeit und Flexibilität abzutrotzen wusste. Ebenfalls hervorragend schnitt Ann-Katrin Naidu ab, die einen tiefsinnigen und emotional eingefärbten, bestens fundierten Mezzosopran für die Ino mitbrachte. Die Juno als rasante Eifersuchtsfurie gab mit entsprechend kräftiger Tongebung Adrineh Simonian. Gut schnitt auch die über gefälliges Sopranmaterial verfügende Elaine Ortiz Arandes in der Rolle der Iris ab. Einen gut durchgebildeten Bass brachte Holger Ohlmann für den Cadmus mit. Solide István Kovács’ mit Scherenhänden ausgestatteter Gott des Schlafes Somnus. Nicht mein Favorit war Franco Fagioli, der in der Partie des Athamus bei den tiefen Tönen seinen Countertenor oft nicht in der Fistelstimme – das macht das unnatürlich Klingende dieser Stimmgattung für mich aus – halten konnte und in das Brustregister rutschte. Als Apollo war Juan Carlos Falcón zu erleben. Gut gefiel der von Jörn Hinnerk Andresen trefflich vorbereitete Chor.

Ludwig Steinbach, 28. 10. 2013
Die Bilder stammen von Thomas Dashuber.