Carmen als Kostümfilm
Wer die Carmen mag, wird diese Inszenierung lieben. Herbert Föttinger erfindet Bizets Meisterwerk in München nicht neu, gibt ihm aber mit neuen Dialogen und einer neuen Handlungszeit frischen Glanz – und betont dabei ein paar Aspekte, die vor lauter Verführung, Leidenschaft und Mord sonst manchmal in den Hintergrund rücken.
„Bei Georges Bizets Carmen denkt man meistens zunächst an die Habanera, Flamenco, Stiere und Femizid“, heißt es im Programmheft zur neuen Carmen am Münchner Gärtnerplatztheater. Die Publikumserwartungen an eine Neuinszenierung dieser Oper sind damit recht gut zusammengefasst. Warum die „Einsteigeroper“ Carmen trotz ihrer enormen Popularität nicht ohne Risiko ist, auch. Denn in Carmen geht es eben nicht nur um Spanien, Liebe und Leidenschaft. Die Oper gipfelt in etwas, was man zynisch fast als typischen Femizid bezeichnen will: Der eifersüchtige Ex-Partner Don José tötet die Titelheldin Carmen, weil er nicht ertragen kann – oder will – dass sie nun jemand anderen liebt. In der Vergangenheit ist die Handlung so interpretiert worden, dass Carmen irgendwie selbst an ihrem Tod schuld ist. Schließlich hat sie ihn doch so weit in den Wahnsinn getrieben, dass er sie töten will.
Dieser Eindruck entsteht am Gärtnerplatztheater zum Glück nie, was auch daran liegt, dass der Mord im Programmheft und in Interviews von Anfang an als das bezeichnet wird, was er ist: Als Femizid, nicht als tragisches Ende oder Mord aus Liebe. Die geschickte Personenregie des Regisseurs Herbert Föttinger ist ähnlich deutlich. Er möchte in seiner Inszenierung die „tiefenpsychologischen Beziehungsgeflechte“ in Carmen ausloten, was ihm vollkommengelingt – und zwar ohne, dass er die Figuren großartig neu interpretiert. Carmen ist bei ihm gewohnt verführerisch, gerade ihre Habanera ist fast schon plakativ inszeniert, und ja, sie treibt Don José in den Wahnsinn. Doch durch die Art, wie Sophie Rennert als Carmen und Lucian Krasznec als Don José miteinander interagieren, bleibt immer deutlich, dass er allein für den Mord an Carmen verantwortlich ist. Nicht sie hat ihn in diese Situation gebracht, sondern er sich selbst.
Föttinger inszeniert aber nicht nur die Psychologie hinter Carmen, er betont auch den Aspekt der Freiheit. Der Regisseur verlegt die Handlung in die Zeit der Franco-Diktatur – gut zu erkennen an den eindeutig von den 40er Jahren inspirierten Kostümen Alfred Mayerhofers – wodurch aus der erotischen Freiheit, die Carmen besingt, eine politische Freiheit wird. Die Schmugglerbande, der Carmen angehört, kann in dieser Inszenierung auch als eine Gruppe Widerständler gedeutet werden. Die Oper Carmen erhält so nicht nur eine neue Facette, es gelingt Föttinger auch, konsequent die diskriminierende Fremdbezeichnung „Zigeuner“ zu vermeiden, mit der Bizets Librettisten Henri Meilhac und Ludociv Halèvy Carmens Gruppe eigentlich bedacht haben.
In diesem Setting und mit gelungenen neuen Dialogen von Föttinger und Susanne F. Wolf wirkt die Carmen wie ein gut gemachter Kostümfilm. Dazu trägt auch Walter Vogelweiders Bühnenbild bei: Ein stilisiertes Sevilla – erst die Kantine der Soldaten und dann der Platz bei der Arena – bilden den Schauplatz des Abends, dessen marmorierte Wände fast wie eine Fortsetzung der Architektur des Gärtnerplatztheaters wirken. Michael Heidinger steuert hierzu ein beeindruckendes Lichtkonzept bei, mit dem Figuren im Hintergrund wie Schattenfiguren wirken, mal bedrohlich und mal erotisch, je nachdem, wie es die Szene erfordert, um im Vordergrund dann gestochen klar zu erscheinen.
Trotz der spannenden Inszenierung und faszinierenden Optik hat der Abend seine Längen. Allerdings ist man geneigt, diese eher Bizet und seinen Librettisten zuzuschreiben als der Inszenierung. Denn Föttingers Regie hat Tempo, und sängerisch wie darstellerisch ist die Neuproduktion auch durchweg überzeugend.
Die Mezzosopranistin Sophie Rennert gibt ihr Debüt als Carmen und zeigt direkt eine herausragende Leistung. Ihr gelingt das Kunststück, die Partie gleichermaßen kräftig wie fein zu singen; bei der Carmen, die ja auch gelegentlich von Sopranistinnen gesungen wird, fällt vor allem die elegante Höhe auf. Besonders gelungen ist die Habanera, die für Teile des Publikums wahrscheinlich der Grund ist, überhaupt Carmen anzusehen, aber auch die Kartenarie, in der Carmen ihren eigenen Tod voraussagt. Rennert interpretiert diese technisch vorzüglich und darstellerisch gefasst, als eine reife Carmen, die ihr Schicksal akzeptiert.
Ihr Bühnenpartner ist, wie schon in der vorletzten Spielzeit bei Massenets Werther, Lucian Krasznec. Den Don José singt dieser herrlich ausdifferenziert und psychologisch durchdacht. Von Anfang an überzeugt er mit seinem lyrischen, aber doch kräftigen Tenorklang, und wird mit zunehmendem Wahnsinn seiner Figur immer besser. Im dritten und vierten Aufzug setzt er viel auf gefährlich leise Töne – und zwar, nachdem er vorher gezeigt hat, dass Pianissimo bei ihm auch weich und schön sein kann. Auch schauspielerisch ist sein Don José sehr gelungen.
In Föttingers Personenregie besonders eindrucksvoll charakterisiert ist die Micaëla. Sie singt davon, sich stärker zu geben als sie ist, und das sieht man auch auf der Bühne: Die Micaëla, die Don José sieht, verhält sich anders – wirkt wie eine andere Person – als die, die allein auf der Bühne steht. Ana Maria Labin singt die Partie als sehr erwachsen, mit kräftigem Sopran, schafft es aber immer, auch Micaëlas Unsicherheiten durchblicken zu lassen. Timos Sirlantzis gibt Escamillo. Das letzte Fünkchen, um dem imposanten Stierkämpfer vokal ganz gerecht zu werden, fehlt an diesem Abend leider, und doch gestaltet er die Partie gewohnt souverän, mit fantastischer, dunkler Tiefe und reichlich Emotion.
Den Zuniga singt Lukas Enoch Lemcke und wirkt mit aufgeklebter Glatze ungefähr dreißig Jahre älter, als er in Wirklichkeit ist. Gesanglich wie darstellerisch gestaltet er die Partie angemessen erwachsen und autoritär. Um beim Militär zu bleiben: Moralès ist mit Ludwig Mittelhammer mehr als luxuriös besetzt. Mittelhammer liefert entsprechend ab, sodass man sich fast wünscht, noch ein bisschen mehr von ihm hören zu können. Vier kleinere Partien sind aus dem Opernstudio des Gärtnerplatztheaters besetzt: Jacob Romero Kressin und Jeremy Boulton sind gleichermaßen souverän als Remendado und Dancaïro, Mina Yu und Anna Tetruashvili singen Carmens Begleiterinnen Frasquita und Mercédès. Auch sie haben ihren großen Auftritt in der Kartenszene, wo sie freudig-aufgeregt den perfekten Kontrast zu Carmens gefasster Trauer spielen. Weiterhin überzeugt Frank Berg mit herrlich düsterem Timbre als Casares, David Špaňhel ist souverän als Lillas Pastia. Der Chor, einstudiert von Pietro Numico, überzeugt mit Spiel- und Tanzfreude und rundet das Ensemble musikalisch wunderbar ab.
Das Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz leitet Chefdirigent Rubén Dubrovsky äußerst feinfühlig. Dirigent und Orchester entlocken der Carmen-Partitur Zwischentöne, die man selten so deutlich wahrnimmt, vor allem das Blech kommt teilweise fast überdeutlich heraus. Der schöne, weiche Raumklang, mit dem das Orchester bei anderen Werken strahlt, erweist sich bei der Carmen allerdings als Hindernis: Die Musik klingt im Verhältnis zur Inszenierung zu weich, zu schön, zu kulinarisch. Ein etwas raueres Spiel hätte dem Orchester an diesem Abend gutgetan, um genauso intensiv zu wirken wie die Inszenierung.
Auf der Bühne aber ist alles, was man sich von einer Carmen nur wünschen kann. Das ist, um noch einmal auf den Anfang zurückzukommen: Die Habanera, Stiere, Flamenco (und Femizid). Escamillo ist eindeutig als Stierkämpfer zu erkennen, es gibt eine von Föttinger spannend inszenierte und von Sophie Rennert exzellente gesungene Habanera und von Karl Alfred Schreiner und Montserrat Suárez exzellent choreographierte, von professionellen Flamenco-Tänzerinnen und Chormitgliedern ausgeführte Tänze. Dazu kommen die neue, politische Ebene und die allgemeine Auffrischung der Dialoge. Mit dieser gelungenen Mischung aus neuen Ideen und dem Bedienen des Publikumsgeschmacks, kann die neue Carmen ein Glanzstück des Gärtnerplatz-Repertoires werden.
Adele Bernhard, 27. Oktober 2024
Besonderer Dank an unsere Freunde vom OPERNMAGAZIN
Carmen
Georges Bizet
München Gärtnerplatz-Theater
Premiere 18. Oktober 2024
Inszenierung: Herbert Föttinger
Musikalische Leitung: Rubén Dubrovsky
Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz