Gelsenkirchen: „Alice“ im Wunderland des MiR

Exemplarisches Tanztheater als grandios inszenierter, bildgewaltig rastloser Theater(alp)traum

Ausdrucksvoller und beeindruckender kann man sich diese Alice nicht vorstellen, Francesca Berruto ist die Idealbesetzung, sowohl tänzerisch, als auch darstellerisch. Geschminkt ist sie wie eine kindliche Stummfilmdiva in schwarzer Mädcheninternats-Kleidung mit Rüschenkragen. Allein ihr ständig suchender Blick, in dem sich alles spiegelt, ist ein Kaleidoskop der Gefühle ihrer schon fast an einen psychedelischen Drogentrip erinnernder Empfindungen – Sehnsucht, Ratlosigkeit, Überraschung, Erstaunen, Angst, Verwunderung, Freude… und noch viel mehr. Diese junge Italienerin ist ein absoluter Glücksfall fürs Gelsenkirchener Ballett; Glücksfälle dieser Art haben wir in den bisherigen Jahren unter Ballett-Chefin Bridget Breiner (die es sich auch diesmal nicht nehmen lässt, eine der Hauptrollen, die Herzkönigin, zu tanzen) des Öfteren erlebt.

Luiz Fernando Bongiovanni erzählt die Geschichte der jungen Alice durchaus werktreu nach zentralen Motiven der Wunderland-Erzählung von Lewis Carroll, wobei er gelegentlich wörtliche Buchzitate als quasi Leitmotive für die folgende Szene in ganz wunderbaren Buchstabenverzierungen an die Wand projizieren lässt. Bongiovannis fantastische Tanzsprache enthält bewusst stilistische Elemente aus allen Tanzrichtungen; da gibt es eine augenzwinkernde Hommage an Pina Bausch, aber auch klassischen Spitzentanz. Ein bezaubernder Pas de Deux (mit Valentin Juteau als variantenreiches, omnipräsentes weißen Kaninchen) ist platziert neben Ensemblewitz und Ironie, wie wir ihn pars pro toto von Ek, Kylian oder Forsythe kennen. Mit relativ wenigen Accessoires erleben wir Welten von überbordend phantastischen Traumsequenzen, eine Idee jagt die andere und wenn nach 50 Minuten die Pause angezeigt wird, sind gerade einmal deren fühlbare 15 vergangen.

Auch im zweiten knapp 45-minütigen Teil vergeht die Zeit wie im Flug, besser im Sprung, wobei jede noch so kleine Bewegung, ja Geste Sinn macht und auf die perfekt ausgesuchte Musik-Collage grandios und stimmig zugeschnitten ist. Man tanzt fast wie auf dem klassischen Vulkan – Ruhepunkte haben Seltenheitswert auf dieser fast expressionistisch zu bezeichnenden kafkaesken Reise der kleinen Alice.

Das zentrale Bühnenbild besteht aus rund dreißig Türen, die über eine schon fast bedrohlich wirkende große Rückwand auch mal verquert oder sich drehend präsentieren. Alle lassen sich öffnen und bergen je nach Szene, wie ein Adventskalender-Türchen, zauberhaft Skurriles. Bühnenbildnerin Britta Tönne hat die Szenerie ganz und unmittelbar ins das Gestühl des wandlungsfähigen Kleinen Hauses integriert; man sitzt hautnah dicht am Geschehen und manchmal wird der Zuschauer auch direkt einbezogen.

Manches wirkt schon gruselig, aber nie verstörend, wenn z.B. wie in einem Horrorstreifen Hände und Arme herausragend mitagieren, aber es gibt auch Wunderschönes wie die zauberhaften Seifenblasen oder die herausstürzenden Blechdosen, die dann wie in einem rückwärts gespulten Film auch wieder in den Schrank zurückfliegen. Verstörend wirken auch am Anfang die Eltern (Mutter / Ayako Kikuchi und Vater / Junior Demitre) die sich unter Strumpfmasken nicht identifizierbar am Kaffeetisch streitend und sich schon fast wie Roboter benehmen; Rituale des Streits perfekt in Tanzsprache und Bewegung integriert.

Überragendes hat Kostümbildnerin Ines Alda geleistet. Entsprechend der Szenerie wandeln sich die Kostüme, die in der Tee-Party des verrückten Hutmachers ihre schillernd optische Krönung finden. Überhaupt ist dies ein Szene, die – gäbe es den Tanz-Oscar – dessen würdig wäre.

Sie zählt zum Beeindruckendsten, was man je auf einer Ballettbühne gesehen hat: hier werden Tassen, Teller, Besteck und sogar hochgeworfene Gläser in einen circensischen Reise-nach-Jerusalem-Zirkel mit einbezogen. Was die Akteure da hinkriegen, ist schon kabarettreife Jonglage vom Feinsten.

Das tänzerisch hohe Niveau, wird atemlos gehalten und sie Spannung lässt nie nach. Der rasche Szenenwechsel wird auch durch den gelegentlich sehr schnellen Rhythmus z.B. einer Strauss-Polka noch forciert. Die geniale Musik-Collage des Brasilianers Eduardo Contrera ist, über die vorzügliche Tonanlage des Kleines Hauses präsentiert, ein Kernelement dieses Ballettwunder-Abends. Das tonale Repertoire reicht von Tecno-Disco-Klängen über Barockes, Avantgardistisches, Reggae-Sounds, Rock, Walzer und Opernhaftes bis hin zu vielfältigen Geräuschen und Tönen – stets perfekt passend zur jeweiligen szenischen Choreografie. Es ist fast wie der Gang über eine historisch zeitgeschichtliche Kirmes, wo an jedem Karussell ein anderes Klangbild sich dem Wanderer überstülpt.

Fazit: Was nicht nur die Solisten, sondern auch das hinreißend agierende Ensemble hier leistet, ist mit Sternen gar nicht genug bewertbar. Damit setzt sich das Ballett des Musiktheaters im Revier zumindest im Konkurrenzkampf der NRW Theater unangefochten an die Spitze. Tolleres, lebendigeres und faszinierenderes Tanztheater kann man zurzeit nirgends erleben.

Peter Bilsing 23.11.15

Bilder: Costin Radu

Post Scriptum

Liebe Eltern! Dies ist ein phantastischer Abend des choreographischen Musiktheaters, hat aber mit dem zuckersüßen Weihnachtsquark altbekannt kitschiger Walt Disney Bildwelten nun überhaupt nichts gemein. Dieses Ballett ist große Kunst – kein Kunstgewerbe! Und es ist für Kinder frühestens ab 10 Jahren überhaupt erst verständlich und rezipierbar. Auch ist es für Säuglinge geradezu freakartiger Tanzmütter, die ich letztens in der Essener Nussknacker-Premiere brüllen hörte, nun gar nichts. Aber für ernsthaft ballettinteressierte Jugendliche ist dies ein Must-go-to-Abend. Echt supercool! Bombe! Hoffentlich sieht das die Theaterleitung so und plant auch noch nach dem Januar, wenn der Rock-Horror-Hype vorbei ist, Zusatzvorstellungen ein.