Gelsenkirchen: „Nabucco“

Premiere: 16.6.2018

Modern, aber nicht modernistisch

Verdis Oper wurde bzw. wird binnen kurzer Zeit an gleich drei Bühnen Nordrhein-Westfalens gegeben. Dortmund machte im März den Anfang, von Gelsenkirchen ist an dieser Stelle die Rede, das Gemeinschaftstheater Krefeld/Mönchengladbach folgt in einer Woche. Es ist freilich nur von einer zufälligen Häufung auszugehen, wenn sich Theater eben nicht untereinander absprechen. Auch die örtliche Verfügbarkeit passender Sänger mag einen Ausschlag gegeben haben.

In „Nabucco“ kann man Archetypisches über Machtwahn und Machtmißbrauch, über Völkerunterdrückung und Fremdenhaß sehen. Parallelen zum Heute liegen massiv auf der Hand, doch sollte man sich szenisch von diesen nicht zu einer plakativen, vereinseitigenden Interpretation hinreißen lassen. Die Inszenierungen in Dortmund (Jens-Daniel Herzog) und Gelsenkirchen (Sonja Trebes, vor Ort bereits mit Händels „Belsazar und Nino Rotas „Florentinerhut“ günstig hervorgetreten) greifen lieber auf die Figurenkonstellation von Shakespeares „King Lear“ zurück. Hier stehen alle am Ende vor einem Trümmerhaufen, und Wahnsinn greift um sich.

Sonja Trebes „zitiert“ auch Lears scheuklappiges Verhältnis zu seinen Töchtern. Während der Ouvertüre wird eine familiäre Szene eingeblendet: Fenena als vom Vater verhätscheltes Girl, Abigaille als Außenseiterin, welche kindliche Gefühle nur bei ihren Stofftieren ausleben kann. Daß sie von ihrer Schwester verschiedentlich attackiert wird, macht das spätere Spannungsverhältnis zwischen den beiden frühzeitig plausibel.

Das Konzept der Regisseurin könnte weiterhin lauten: alle gegen alle. In der Auseinandersetzung von Babyloniern und Juden sucht jeder seinen optimalen Behauptungsplatz. Besonders deutlich wird das beim Oberpriester des Baal, schon in Dortmund als Intrigant der besonderen Art gezeichnet, in Gelsenkirchen durch Dong-Won Seo aber zu einem regelrechten Usurpator gestempelt. Er macht sich an Abigaille schleimig ran und stopft während des Gefangenenchores ungerührt Essen in sich hinein.

Fenena ist keineswegs das traditionelle Opferlamm, sondern verfolgt durch all die politischen Ränke hindurch zielstrebig ihren eigenen Weg. Zuletzt wird sie auf ihren Vater schießen („Ersatz“ für den Blitzschlag), steht sie doch längst voll auf der Seite der Juden. Dies geschieht nicht ganz ohne Zutun von Rahel (bei Verdi Anna, Schwester des Zaccaria), die durch Sonja Trebes völlig neue Rollenkonturen erhält (der Singpart für Shixuan Wei bleibt freilich der gewohnt beiläufige). Rahel bringt Fenena die orthodoxen Glaubengesten bei, welche sich diese immer lustvoller aneignet.

Die Figur Abigailles bleibt weitgehend unverändert bestehen: eifersüchtiges Liebesrasen und Machtrausch, dieser freilich auch als Kompensation für ihre spät entdeckte niedere Herkunft und die fehlende Vaterliebe. Die kleine Abigaille aus der Ouvertüre taucht immer wieder auf der Szene auf, erinnert die erwachsen gewordene Frau an ihre Traumata.

Anders als im Verdi-Original ist in Gelsenkirchen (wie zuvor auch in Dortmund) Nabuccos Wahnsinn ein bleibender. Wenn er von Abdallo (gut in der Minipartie: Tobias Glagau) sein Schwert fordert und stattdessen einen Besen in die Hand gedrückt bekommt, überkommt einen zunächst das Lachen, dann aber auch tiefes Mitleid. Gefeiert werden indes als neues Herrscherpaar Fenena und Ismaele. Das wird zufrieden beäugt von Zaccaria, seinerseits ein durchaus zielstrebiger Politiker in eigener Sache.

Sonja Trebes gelingt mit ihrer Inszenierung eine plastische, spannende Deutung der im Original kaum noch spielbaren Oper. Statisches und rampenorientiertes Agieren wird zwar nicht völlig vermieden, fügt sich in den Regiestil aber letztlich sinnvoll ein. Trotz moderner Kostüme (Britta Leonhardt) wird ein Bezug zum Heute jedoch nur so weit aufgebaut, daß es zum Nachdenken anregt, ohne plakative Realbilder vorzugeben. Auch Dirk Beckers Bühne bietet Stimmiges.

Der Dirigent Giuliano Betta wirkt derzeit vor allem an der Deutschen Oper am Rhein und hat, u.a. als Teilnehmer von Meisterkursen bei Riccardo Muti, speziell das italienische Repertoire ausgiebig studiert. Von 2003 bis 2009 wirkte er in Krefeld/Mönchengladbach – dort wie bereits erwähnt der nächste „Nabucco“. Am Musiktheater im Revier sorgt Betta mit der Neuen Philharmonie Westfalen für einen kraftvollen, dramatisch gespannten und klangsonoren Verdi-Sound und führt auch den vom Publikum besonders nachdrücklich gefeierten Chor (Einstudierung: Alexander Eberle) zu einer Höchstleistung.

Die Solistenbesetzung gibt sich international. Der Niederländer Bastiaan Everink (in einem früheren Leben Soldat u.a. im Golfkrieg 1991) wartet beim Nabucco mit einem großdimensionierten, autoritativen Verdi-Bariton auf. In der Höhe kommt er intonatorisch mitunter an leichte Grenzen, wie auch Yamina Maamar bei ihrer Abigaille. Aber ihr Porträt ist in seiner Verve und Unbedingtheit echt Klasse. Der Kroate Luciano Batinic posaunt den Zaccaria hinreißend. Martin Homrich gibt seinerseits den Ismaele mit starker vokaler Strahlkraft. Anke Sieloff, die seit Jahren unentbehrliche, vielseitige Mezzosopranistin am MiR, überzeugt mit der Fenena voll und ganz.

Beim Premierenpublikum große Begeisterung. Einige wenige Negativreaktionen gegenüber der Inszenierung störten den Gesamterfolg kaum.

Christoph Zimmermann (17.5.2018)

Bilder (c) MiR