Uraufführung: 08.10.2021, besuchte Vorstellung: 16.10.2021
Wie zeitgemäß ist das System der Arbeitslosen-Vermittlung?
Unter keinen ganz so guten Vorzeichen stand die Uraufführung von „Stadt der Arbeit“ am Gelsenkirchener Musiktheater im Revier. Aufgrund eines positiven Corona-Tests im Ensemble musste die Premiere vom 25. September 2021 auf den 08. Oktober 2021 verschoben werden, da auch am MiR in Sachen Gesundheitsschutz der Mitarbeiter keine Kompromisse gemacht werden. Nach Vorstellungen am 08. und 09. Oktober können nun seit diesem Wochenende die Vorstellungen bis Allerheiligen (hoffentlich auch weiterhin) wie geplant stattfinden. Volker Lösch und Ulf Schmidt sind bekannt dafür, ihren Theaterstücken mit starken lokalen Bezügen durch den Einsatz von Bürgerchören eine besondere Darstellungsform zu geben. Als Thema für das Gelsenkirchener Auftragswerk, stand schnell die Arbeitslosigkeit fest, ist die Arbeitslosenquote hier im Bundesdurchschnitt doch im oberen Spitzenbereich anzusiedeln. Rund 260.000 Einwohner, von denen rund 167.000 im erwerbsfähigen Alter sind. Allerdings geht gerade einmal die Hälfte hiervon einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach. Jeder vierte Gelsenkirchener Bürger hat Anspruch auf Hartz-IV-Leistungen. Soweit die Faktenlage.
Im ersten Teil des Abends befinden wir uns in einem Arbeitshaus, in dem die 15 Insassen wie in einem Gefängnis leben. Die Fallmanager Petra und Gerd (angelehnt an Peter Hartz und Gerhard Schröder) wirken entsprechend eher wie Gefängnis-Aufseher. Wenn ein Arbeitssuchender aus durchaus verständlichen Gründen beispielsweise die Mitarbeit bei einer Maßnahme verweigert, wird seine Kürzung des Arbeitslosengeldes gleich durch einige Elektroschläge ergänzt. Alles ganz im Sinne des „Kunden“, dem man schließlich helfen will, wieder einen Fuß in den Arbeitsmarkt zu bekommen. Auf Grund der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Kontaktbeschränkungen kommen zwar auch in „Stadt der Arbeit“ die gewohnten Sprechpassagen des Bürgerchores nicht zu kurz, darüber hinaus werden aber auch die Einzelschicksale von 15 Bürgern und Bürgerinnen der Stadt eindrucksvoll in Szene gesetzt. So entwickelt sich ein eindringlicher Musiktheater-Abend, der an der ein oder anderen Stelle durchaus zum Nachdenken anregt und wo man sich fragt, ob bei der „Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt“ wirklich alles richtig läuft. Macht es Sinn, jemanden eine Umschulung zur Köchin zu bezahlen, die ganz andere Interessen hat? Ist es legitim, dass die Arbeitslosen unentgeltlich ehrenamtliche Arbeit leisten, statt sie für diese notwenigen und sinnvollen Arbeiten direkt richtig zu entlohnen? Und was bringen alle Maßnahmen, wenn es gar keine Arbeitsplätze gibt? Zwar ist die gesamte Inszenierung entsprechend plakativ geraten und an der ein oder anderen Stelle sicher auch deutlich zu vereinfacht oder einseitig dargestellt, dennoch bewegt den Zuschauer das reale Schicksal der Akteure, die allesamt eine ganz hervorragende Leistung abliefern und einen großen Anteil am Erfolg des Abends haben. Bravo an alle Insassen dieses Arbeitshauses. Schauspielerisch stark auch Glenn Goltz als Gerd und Gloria Iberl-Thieme als Petra, die durch ihre übertriebene und parodistische Zuspitzung, gezielt den Finger in die Wunde legen. Herrlich amüsant wird es beispielsweise, wenn einer Kundin erklärt wird, wie die Anträge auf ALG-II Leistungen auszufüllen sind und sie hierbei von einem Berg an Formularen erschlagen wird. Wenn die Fallmanager mal nicht mehr weiterwissen, kommen ihnen die Götter Labora und Dromus zu Hilfe, die mal mit Zuckerbrot und mal mit Peitsche in der gleichen Weise auf die Arbeitssuchenden losgehen. Hier können Eleonore Marguerre und Sebastian Schiller entsprechend überzeugen. Nach der Pause ist das Arbeitshaus aus Geldmangel der Stadt geschlossen worden, allerdings haben Petra und Gerd noch genau einen Job zu vergeben, um den sich die 15 Insassen nun in einer Art Casting-Show bewerben müssen. Auch hier gelingt der Humor des Abends, wenn beispielsweise der der aus Syrien geflüchtet Aref seine gelungene Integration durch einen Schuhplattler darbietet. Für alle Darsteller gibt es hier gebührenden Applaus. Das Bühnenbild (Bühne und Kostüme: Carola Reuther) hat sich derweil vom imposanten Käfigbau auf eine schlichte Zielscheibe reduziert, auf der um die offene Stelle gekämpft wird. Als es schließlich darum geht, andere Mitbewerber zu denunzieren, um sich so einen eigenen Vorteil zu schaffen, verbünden sich die Arbeitssuchenden und wagen den Aufstand gegen das bestehende System.
Musikalisch erklingen neben Werken von Wagner, Mozart und Beethoven beispielsweise auch Haydns Deutschlandlied und Eislers DDR-Hymne, teilweise mit neuen eigenen Texten versehen. Aber auch aktuelle Hits aus Rock, Pop und Rap sind im Stück ebenso verarbeitet wie ein Auszug aus Boublil und Schönbergs „Les Miserables“. Die Band unter der musikalischen Leitung von Michael Wilhelmi spielt hierbei alle musikalischen Bereiche sehr treffsicher, auch wenn es sich teilweise nur um wenige Auszüge aus einem Werk handelt. Alles in allem hinterlässt „Stadt der Arbeit“ vor allem durch den realen Hintergrund der Darsteller und ihrer herausragenden Darstellung einen bleibenden Eindruck, der wachrütteln soll. Es folgen weitere Aufführungen am 24.10., 28.10., 29.10. und 01.11. am Gelsenkirchener Musiktheater im Revier.
Markus Lamers, 17.10.2021
Fotos: © Klaus Levebvre / Isabel Machado Rios
Benjamin Britten