Gelsenkirchen: Tops und Flops – „Bilanz der Saison 2022/23“

Nein, ein „Opernhaus des Jahres“ können wir nicht küren. Unsere Kritiker kommen zwar viel herum. Aber den Anspruch, einen repräsentativen Überblick über die Musiktheater im deutschsprachigen Raum zu haben, wird keine Einzelperson erheben können. Die meisten unserer Kritiker haben regionale Schwerpunkte, innerhalb derer sie sich oft sämtliche Produktionen eines Opernhauses ansehen. Daher sind sie in der Lage, eine seriöse, aber natürlich höchst subjektive Saisonbilanz für eine Region oder ein bestimmtes Haus zu ziehen. Heute blicken wir nach den persönlichen Reiseeindrücken von Jochen Rüth auf das Musiktheater im Revier Gelsenkirchen. Weitere Bilanzen sollen folgen.


Beste Produktionen:
Benjamin Brittens „Billy Budd“ in der Regie von Intendant Michael Schulz.
Aribert Reimanns „Bernarda Albas Haus“ in der Regie von Dietrich Hilsdorf.
Beide Opern sind auch für die ganz großen Häuser eine Herausforderung, in Gelsenkirchen folgten sie innerhalb von sechs Wochen aufeinander.

Entdeckung des Jahres:
Un giorno di regno“ – ist von Verdi, hört sich an wie Verdi! Warum wird diese komische Oper nicht öfter gespielt?

Beste Gesangsleistung:
In Gelsenkirchen ist man immer wieder von der Vielseitigkeit des Ensembles überrascht, ein Beispiel: Mezzosopranistin Lina Hoffmann singt mit lyrischem Wohlklang die Titelrolle in Janaceks „Das schlaue Füchslein“, meistert souverän Reimanns halsbrecherische Intervallsprünge als Augustias in „Bernarda Albas Haus“ und beschließt die Saison mit rasanten Verdi-Koloraturen als Giulietta in „Un giorno di regno“.

Nachwuchssängerinnen des Jahres:
Sopranistin Margot Genet, die als Opernstudio-Mitglied ein glänzendes Debüt als Norina in „Don Pasquale“ gibt. Auch in Dortmund fällt sie als Papagena und Seherin Manja in „Gräfin Mariza“ positiv auf. Zum Saisonende stemmt sie dann noch die Amelia in „Bernarda Albas Haus“ parallel zu Auftritten an der Pariser Opéra Comique in Grétrys „Zémire et Azor“.

Dienstältester Sänger:
Joachim G. Maaß begann seine Karriere 1985 am Oberhausener Theater als Don Alfonso in „Cosi fan tutte“ und singt seit 1988 am Musiktheater im Revier. Offiziell ist er zwar schon im Ruhestand, als Fabrikant Tobler in „Drei Männer im Schnee“ und Dansker in „Billy Budd“ beweist er, dass er immer noch gut bei Stimme ist.

Überraschungsgast:
Intendant Michael Schulz zieht sonst nur die Fäden hinter den Kulissen und führt Regie. Zur Saisoneröffnung steht er nun als Hoteldirektor Kühne in der Revueoperette „Drei Männer im Schnee“ auf der Bühne und präsentiert sich auch als gewitzter Darsteller.

Bestes Dirigat:
Johannes Harneit, der Reimanns vertrackte Synkopen und Quintolen in „Bernarda Albas Haus“ ganz natürlich fließen lässt und das Ensemble sicher durch die Partitur führt.

Beste Regie:
Eine einzelne Produktion herauszugreifen wäre ungerecht: In Gelsenkirchen bekommt man gut durchdachte Inszenierungen geboten, die gleichzeitig optisch ansprechend und publikumsfreundlich sind, ohne dass sie sich anbiedern.

Bestes Bühnenbild:
Heike Scheeles fantastisch-poetische Waldlandschaft in „Das schlaue Füchslein“.

Beste Chorleistung:
Der groß auftrumpfende Männerchor in Brittens „Billy Budd“.


Die Bilanz zog Rudolf Hermes.