Großartige Wiederbelebung eines fast vergessenen Komponisten
Ein knallbuntes Plakat wirbt in Regionalzügen und in der Stadt für einen Besuch der Toten Stadt im Theater Görlitz. Es ist erfreulich, daß dies lange Zeit unterschätzte Werk Erich Wolfgang Korngolds nach langer Pause wieder den Weg ins Repertoire der Opernhäuser und Theater findet. Zwar dürften Kinointeressierte schon seine Musik gehört haben – zuletzt auch aus der Toten Stadt im Kultfilm der Coen Brothers The Big Lebowski – dennoch zählt Korngold immer noch zu den Vergessenen.
Anfang der zwanziger Jahre war sein 1920 in Hamburg und Köln uraufgeführtes Hauptwerk „Die tote Stadt“ ein Publikumsmagnet. Neben der eingängigen spätromantischen Musik, die sich andererseits der modernen Tonsprache öffnete, trug das Sujet zum Erfolg bei. Im kurz zuvor beendeten Krieg traf der Umgang mit dem Verlust eines geliebten Menschen den Nerv der Zeit. Der Kunstgriff, die Bewältigung der Lebenskrise in einen Traum mit kathartischer Wirkung zu verlegen, griff die damals in Mode gekommene Psychoanalyse auf. Der damals 23jährige Komponist, der ein Textbuch seines Vaters kongenial umgesetzt hat, feierte seinen größten Triumph – der leider sein letzter durschlagender Erfolg auf der Opernbühne blieb.
Das Werk erfordert neben einem gewaltigen Orchester einschließlich Parsifal-Glocken, Orgel, Harmonium und Windmaschine Sänger, die auch einen Tristan durchstehen können und erstklassig besetzte Nebenrollen. Verständlich, wenn Intendanten das Risiko scheuen. Werden die Zuschauer den Aufwand belohnen? In Hamburg dürfte eher Klaus Florian Voigt für ausverkaufte Vorstellungen garantieren als der Name des Komponisten. Nach der Verfemung durch die Nationalsozialisten litt die Rezeption seit den fünfziger Jahren unter einer elitären Geringschätzung. Die Aussage, es klinge etwas nach Korngold, galt als Verdikt. In bestimmten Kreisen war das ebenso anstößig wie heute das Bekenntnis, Helene Fischer zu mögen.
Größere Wiederbelebungsversuche der "Toten Stadt" in Deutschland, wie die legendäre Inszenierung von Günther Krämer vor über 20 Jahren an der Düsseldorfer Rheinoper, später folgten Berlin und Frankfurt, oder die fulminante Weise-Produktion an der Bonner Oper vor 6 Jahren bzw. auch die sehr gute Inszenierung am MiR in Gelsenkirchen von Thilo Reinhart blieben nicht ohne Nachhall; mit der Folge, daß sich nun auch unsere fabelhaften mittlere und kleinere Bühnen des Werkes annahmen, wie Hof, Augsburg, Graz, Lübeck, Freiburg und Chemnitz – nun auch Görlitz. Ist das schon die verdiente Korngold-Renaissance?
Die Stadt verfügt über ein wunderschönes Theater, das nicht zu Unrecht als „Kleine Semperoper“ gerühmt wird. Der kleine Orchestergraben zwingt allerdings zu Kompromissen. Das Orchester wurde hier – wie beim Rosenkavalier in Döbeln / Freiberg – hinter der Bühne plaziert. Der Dirigent kommunizierte über den Monitor mit den Sängern. Die Übertragung per Lautsprecher in den Zuschauerraum wirkte etwas befremdlich. Andererseits erlaubte die in die Tiefe gestaffelte Bühne interessante Effekte, wenn sich kurzzeitig der Blick auf einen Teil des Orchesters öffnete. Marie sang ihren Part in der Traumsequenz des Ersten Aktes hinter der Szene, durch die Verstärkung ergab sich aber ein leicht irritierender Echo-Effekt, der dramaturgisch beabsichtigt sein könnte. Die für die Musik Korngolds unverzichtbare Klang-Opulenz wurde jedoch dadurch etwas ausgebremst.
Ausgesprochen schwierig ist es, für eine Umsetzung des Alptraumhaften mit seinen Umschwüngen ins Groteske die richtigen Bilder zu finden. Das Werk wurde in Görlitz auf einer Schräge gespielt, die die verzerrte Wahrnehmung des Protagonisten unterstreichen sollte und den Sängern schon körperlich einiges abverlangte. Das Bild der Marie verkörperte eine Tänzerin, die nahezu die gesamte Zeit auf der Bühne präsent war. Sie stellte eine Projektion Pauls dar, die Bewegungen wurden dann eckiger, bis sie sich in die verrenkte Gliederpuppe verwandelte, die dann nach Pauls Erwachen im Dritten Akt ausgetauscht wurde. Tänzer des Balletts ergänzten die Schauspielertruppe. Sie füllten auch in der Fronleichnamsprozession die Bühne. Die „verzerrten“ Bewegungen erinnerten mich an die Hamburger Produktion. Offensichtlich schienen alle Kräfte des Theaters mobilisiert worden zu sein. Aus meiner Sicht führte das in der Vision Pauls im Dritten Akt zu einer Unübersichtlichkeit, als dann auch noch Videosequenzen eingespielt wurden, während die ganze Bühne geradezu von Personal wimmelte. Ballettänzer werden gegenwärtig in der Oper immer beliebter. Ich empfinde den Einsatz von Tänzern eher ablenkend als erhellend – so z.B. auch bei dem "Nonnenballett" zu Beginn des Zweiten Aktes.
Bemerkenswert ist, daß das Theater Görlitz ohne Gäste auskam. Durch eine erstklassige Besetzung der Nebenrollen Regina Pätzer als Brigitta und Ji-Su Park als Frank war man sofort für das Ensemble eingenommen. Anrührend war der Ausbruch Brigittas am Anfang des Ersten Aktes "Was das Leben ist, weiß ich nicht". Das Lied des Pierrot „Mein Wähnen, mein Sehnen“, das Ji-Su Park beseelt und differenziert interpretierte, hat mich selten so angesprochen. Die beiden Hauptdarsteller füllten die ungeheuer anspruchsvollen, geradezu "mörderischen" Rollen aus und es gelangen ihnen berührende Momente. Patricia Bänsch sang die Marietta / Marie mit etwas Vibrato und mitunter recht laut, was sicher Geschmackssache ist. Jan Novotny klang gelegentlich etwas nasal. Beide lagen immer über dem in den Ausbrüchen gewaltig auftrumpfenden Orchester unter der Leitung von GMD Andrea Sanguineti. Die sicher nicht einfache Abstimmung mit dem Orchester über Monitor funktionierte. Es war beeindruckend, wie beide in ihren Rollen auch darstellerisch aufgingen.
Als ärgerlich empfand ich die Idee, den wohl bekanntesten Hit, „Glück, das mir verblieb“ zu verfremden, als hätte der Regisseur Angst davor, das Ganze würde zu „gefühlig“ bzw. melodienselig. Aus der alten Laute wurde die alte Platte mit Richard Tauber, die dann auch mit etwas Schellacksound eingespielt wurde, während dann bei der dritten Strophe Marietta zum ergriffenen Gesicht des Paul in Lachen ausbrach. Das ergibt durchaus einen nachvollziehbaren Sinn, zerstört aber den Hit der Oper, auf den alle warten, die das Werk schon einmal gehört haben. Neuerdings wird die Tote Stadt nur noch mit dem Strich am Ende des Ersten Aktes und der nahtlosen Überleitung zum Zweiten Akt gegeben, wodurch einige schöne Takte und ein effektvoller Schluß verloren gehen.
Sinnvoll ist der durch die Videoeinblendungen hergestellte Bezug zur Entstehungszeit nach den Schrecken und dem massenhaften Sterben im Ersten Weltkrieg. Gefallen hat mir der offene Interpretationsansatz. Ist es die über den Tod hinausreichende Liebe oder eher das schlechte Gewissen Pauls, der an dem Tod seiner Frau vielleicht nicht unschuldig ist? In Görlitz entschied man sich für eine Art „Happy End“, bei der ein durch den Traum geläuterter Paul nach einigem Zögern tatsächlich gemeinsam mit Frank die Bühne über den Seitenausgang des Zuschauersaals verläßt. Die Musik spricht nach meinem Empfinden etwas anderes aus. Der Traum hat ihm eher vermittelt, daß er seiner seelischen Verletzung nicht entfliehen kann. Der letzte Satz: „Ich will`s – Ich will´s versuchen.“ klingt nun einmal nicht nach dem Aufbruch zu einem neuen Leben jenseits der Stadt des Todes.
Alles in allem kann sich die Görlitzer Produktion durchaus mit Hamburg messen; einige Rollen schienen mir sogar stärker besetzt. Das zahlreich erschienene Premierenpublikum bejubelte alle Mitwirkenden einhellig. Erwähnenswert ist das informative und liebevoll gestaltete 70-seitige Programmheft.
Einen herzlichen Dank an alle Beteiligten und das aufmerksame und entgegenkommende Personal für einen eindrucksvollen Opernabend.
Michael Rudloff 17.4.15
Bilder: Theater Görlitz / Marlies Kross
Opernfreund-CD-Tipp
Immer noch das MASS DER DINGE – vor allem sang Kollo damals at his top!