Venedig: „Un Ballo in Maschera“

Premiere: 24.11.2017, besuchte Vorstellung: 1.12.2017

Ist „Un ballo in maschera“ eine politische Oper? Die meisten Opernfreuden würden die Frage sogleich verneinen. Auch ich habe zunächst gedacht, dass das historische Element, also die politischen Ereignisse der Verdi-Zeit, nicht ganz unwichtig sei, aber für dieses Werk der großen Emotionen und der Liebe (und, natürlich, des Todes) weniger ausschlaggebend ist als für etliche andere Verdi-Opern. Eine Inszenierung, die zur Zeit der Komposition spielt und den politischen Background betont, ist nicht falsch, aber sooo wichtig ist er denn doch nicht.

Weit daneben getroffen. 1. funktioniert die Inszenierung Gianmaria Alivertas ganz gut, und zweitens hat Antonio Rostagno, Professor an der Universität Roma I, in seinem Vortrag bei den Giornate Wagneriane (im schönen Festsaal von Wagners Sterbepalazzo Vendramin) gerade gut begründen können, dass sich hinter der Geschichte des Königs, seines besten Freundes, seiner unglücklichen Geliebten und seiner politischen Gegner mehr verbirgt als ein typisches italienisches Melodramma. Wer weiß beispielsweise, dass der Librettist dieser Oper, Antonio Somma, Sekretär des Vereinigungspolitikers Daniele Manin und damit ein Gegner Mazzinis war? Wer sich in einem der kleinen Säle neben dem Apollosaal des Teatro La Fenice ein Gemälde anschaut, dass die Befreiung Daniele Manins und Niccoló Tommaseos im Jahre 1848 zeigt, erhält nicht nur ein Bild aus der venezianischen Geschichte. Er wird auch darauf hingewiesen, dass das Thema des jüngeren „Maskenball“, die Auseinandersetzung zwischen Konservativen und Radikalen, nicht auf die Straße beschränkt war. Die Inszenierung zeigt nun nicht, was möglich wäre, eine italienische Konstellation, sondern eine amerikanische – denn bekanntlich musste Verdi zusammen mit Somma das Sujet um den ermordeten schwedischen König Gustav III. aus Zensurgründen im zeithistorischen Kontext verändern. Heraus kam also eine Geschichte, die in Boston spielt – auch auf der Bühne des Fenice.

Regietheater? Natürlich – aber wenn die bürgerlichen Abgeordneten die Vertreter des alten Grundbesitzeradels sind, deren Rechte beseitigt wurden, weil der moderne Volkstribun, der übrigens nicht wie Abraham Lincoln aussieht, die Befreiung der schwarzen Sklaven auf sein Panier geschrieben hat, kann der Rezensent keinen Fehler im Konstrukt entdecken. Ulrica ist also eine schwarze Zauberin, die – halb zum Schein, halb echt, mit im Goldlicht wippenden Spiegeln auch sehr poetisch – die Kraft der Ahnen in Anschlag bringt, wenn sie ihre nächtlichen Treffen veranstaltet: eine Schutzgemeinschaft der Schwarzen gegen die Weißen, die es lieben, an Galgenhügeln ihre aufsässigen Neger zu finden, zu foltern und zu töten. Was man eben damals drüben so tat, als Verdi seine Oper schrieb. Seltsam ist nur, dass auch Amelia eine Schwarze ist – eine schwarze Sängerin, die man (glücklicherweise) nicht auf Weiß geschminkt hat.

Renato ist in Sommas amerikanischer Fassung, auf der Bühne, die Massimo Checchetto bildhaft und prägnant entwarf, übrigens ein Kreole, also auch einer der „Anderen“; dass der gute Demokrat, also Richard, ihn zu seinem besten Freund ernennt, ist in zweierlei Sinn bedeutend, und dass Amelia als Schwarze am Galgenberg, im höchst dramatischen Dunkel und im Mondlicht der nächtlichen Drehbühne, besondere Ängste entwickelt: dies ist nachvollziehbar. So nachvollziehbar wie ihr Gebet auf der Spitze des Felsens, an dem der Tote dieser finsteren Nacht liegt. Orrore… War es derselbe, der zu Beginn der Oper die Treppe des (Weißen?) Hauses wischte, auf der er für die Konservativen Platz machen musste? Auf jeden Fall war es der Schwarze, der am Ende des Ulrica-Akts seine von bösen Dämonen (und amerikanischen Männern) gepeinigte Frau dank der Hilfe eines weniger konservativen und gewalttätigen Volksvertreters unbeschadet, d.h.: unvergewaltigt nach Hause nehmen konnte.

Nun wird Amelia allerdings von einer Sängerin gesungen, der das venezianische Publikum mit Freundlichkeit entgegenkommt. Kristin Lewis hat große Probleme mit ihrer Stimme: die Höhen werden meist nicht so leger erreicht wie nötig, die Notenhöhen variieren, der Klang wirkt ab der Mitte des Ambitus ihrer warmen Stimme oft unsicher, mit einem Wort: rein stimmtechnisch betrachtet ist diese Amelia eine bedauernswerte Fehlbesetzug. Und doch… Der Rezensent ist nicht Beckmesser genug, um die Leistung der Kristin Thomas völlig zu verdammen, im Gegenteil: Sieht man in dieser Amelia eine fragile Frau innerhalb einer mörderischen Gesellschaft, deren (von Verdi genial komponierter) Hohn jenem bösen Witz entspringt, den Quentin Tarantino in „Pulp Fiction“ entwickelt hat – dann kann man diese rein vokal höchst seltsame Interpretation als bewegendes Porträt einer gehetzten Frau durchaus genießen. Oder anders: Das Mitleid des Zuschauers, dem es auf mehr als Stimmakrobatik ankommt, ist dieser auch spielerisch ausgesprochen lyrischen Amelia sicher. Um ein paar Sätze Giancarlo Landinis (in „Verdi e Wagner: voci e personaggi per un doppio centenario“, auf: http://www.operaclick.com/speciali/un-ballo-maschera-amelia…) zu zitieren, der das stimmliche Porträt der Figur folgendermaßen beschrieb: „La complessità del suo caso è tale da non rendere possibile una vera e propria omologazione ad un ruolo.“ Landini sprach von einer „costruzione di una vocalità nuova e diversa“, schließlich vom „nobile realismo delle passioni“ in Verdis Meisterwerk. Und wer weiß, wie die erste Amelia, die ansonsten nicht weiter aufgefallene Eugenia Julienne-Dejean, damals die Amelia kreiert hat…

Nein, es geht nicht allein um „gran‘ passioni“, auch wenn die Sänger der Neuproduktion alles tun, um diese großen Leidenschaften unverstellt zu präsentieren. Francesco Melis Riccardo ist ein präpotenter, in seiner ganzen überzeugenden Stimmschönheit guter Tenor der alten Schule, dessen souveräne Beherrschung des „Materials“ im Grunde nicht darüber hinwegtäuscht, dass hier eine psychologisch tiefe Darstellung dieses interessanten monomanen Charakters kaum vorliegt. Ähnliches kann man auch vom Orchester behaupten: Myung Whun-Chung dirigiert einen expressiven, ja expressionistischen „Maskenball“, dem alle Piano-Nuancen abgehen, woran sicher nicht die erstaunlich offene Akustik des Hauses schuld ist, die den ersten Auftritt des Riccardo – vorn links an der Seite – ungeheuer wuchtig macht. Trotzdem macht es Spaß, aufs Orchester (und auf den von Claudio Marino Moretti einstudierten Chor des Fenice) zu hören, das die satirischen Elemente zumal der Verschwörermusik herzhaft bringt – und das vergleichslose Liebesgeständnis des 2. und die hochdramatische Verschwörerszene klingen im Fenice schier überwältigend.

Vladimir Stoyanov ist ein glänzender Renato, dem die Regie die Chance gibt, ihn zu verstehen: Während seiner großen Vergeblichkeitsarie zieht er sich die Perücke vom enthaarten Kopf. Es gibt also objektive erotische Gründe, wieso sich seine Frau dem jüngeren charmanten Herrscher scheinbar zu- und sich vom alten Ehemann scheinbar abwendet: mit dem bekannten Ergebnis ungeheurer Missverständnisse. Immer wieder psychologisiert Gianmaria Aliverta Situationen und Figuren, ohne dem Text und der Musik Gewalt anzutun. Und stünde am Abend nur Serena Gamberoni als Oscar auf der Bühne: der Abend hätte sich schon gelohnt. Sie und die starke Ulrica der Silvia Beltrami machen auch stimmlich gleichsam wett, was der Amelia an technischer Vollkommenheit fehlt. Als Silvano, der unversehens zu Amt und Kleingeld gekommene Seemann, glänzt in seinem kurzen Auftritt William Corrò, als fideler Richter, der sich nachts als Chef des 1865 gegründeten Ku Klux Klan betätigt (eine Type!), Emanuele Giannino.

Am Ende tanzt man auf dem Maskenball, man trägt kollektiv, neben einer Bühnenskulptur des Kopfes der Riesendame, Miss-Liberty-Masken, und es passiert, was nicht in jedem Theater, aber nur wenige Jahre nach der Premiere des „Maskenball“ in einem konkreten Theater der Verdi- und Lincolnzeit passierte: der Demokrat wird erschossen. Dass es nicht aus politischen Gründen geschieht, ist in Ordnung; die italienische Oper ist kein politischer Traktat, sondern immer noch das Melodramma der großen Gefühle. Am Schluss erstarrt die ergriffene Masse im Standbild, einer Pietá ähnlich sinkt und singt sich der Gute Mensch von Boston in den Tod. Ein Tableau, das jeden deutschen Regietheaterregisseur peinigen würde. Dass am Abend Regietheater der besseren Sorte, mit den nötigen Abstrichen zugunsten der konservativen Italienischen Oper, über die Bühne geht, ist bemerkenswert. Doch einer tanzt während des statischen Bildes buchstäblich ein bisschen aus der Reihe: der Page Oscar, der Junge aus dem Volk, der Anhänger einer neuen, besseren (US-amerikanischen) Politik inmitten des vorletzten Jahrhunderts. Auch das war schön.

Frank Piontek, 4.12.2017

Fotos: © Michele Crosera / Teatro La Fenice