Luxemburg: „L’Orfeo“, Claudio Monteverdi

Choreographie am Styx

Zum Schluss tanzt auch das Orchester – barfuß

2007 beging man das 400-jährige Jubiläum der europäischen (italienischen) Oper. Denn 1607 wurde Monterverdis „L’Orfeo“ in Mantua uraufgeführt. Die Entwicklung der Kunstform Oper hatte indes schon Jahrzehnte früher angefangen und wichtige Impulse durch einen Gelehrtenstreit um 1580 in Florenz erhalten, der sich u.a. um die Frage drehte, ob in der griechischen Tragödie gesungen oder gesprochen wurde. Im Zeitalter von Humanismus und Renaissance wollte man zu einer „historisch informierten Aufführungspraxis“ der Stücke zurückkommen. Zur gleichen Zeit verlief die Entwicklung der monodischen Musik, die sich auch auf die weltlichen Themen der Madrigale auswirkte, welche neben dem Schauspiel den dramatischen Grundstock für das Musiktheater bildeten. In Florenz wurde der neue Musikstiln mit verständlicher auf die Prosodie der Sprache gesetztem Gesang zu Generalbass-Begleitung am frühesten entwickelt und geschätzt. Dier neue Musizierstil beließ durch seine Verständlichkeit den Texten ihren Sinn und gab dem Gesang die gewünschte harmonische Stütze. Heitere Schäferspiele wurden schon mit Gesang und Musik als kleine beliebte intermedi zwischen den Akten der großen Tragödien oder als Tafelmusiken zu endlosen Tafelfreuden aufgeführt.

Totale

Alle diese Strömungen flossen in die Entwicklung der Oper ein. Da galt es einerseits der Musik um der Musik willen und andrerseits interessanten passenden Sujets. Was sollte sich da besser eignen als der Orpheus-Mythos? Orpheus, in der griechischen Sage als Sohn des auch für Musik zuständigen Gottes Apollo, war es Orpheus, konnte mit seinem Gesang die Steine zum Weinen bringen und hätte sicher jahrelang an der Spitze der Charts gestanden, wenn nicht seine Frau von einer giftigen Schlange gebissen worden wäre. In Florenz waren es schon die Komponisten Jacopo Peri (1600) und Giulio Caccini (1602), die den Orfeo-Stoff unter dem Titel „Euridice“ als Opern zur Aufführung brachten. Den in Ovids Metamorphosen enthaltenden Stoff fasste der Librettist Alessandro Striggio d. J., Sohn des gleichnamigen Madrigalkomponisten, zu seinem Libretto für Monteverdi.

Wenn auch heute als erste Oper der Musikgeschichte wird allgemein "La Dafne, favola drammatica" (1598 Florenz) angesehen wird, bleibt dennoch Monteverdi u.a. der Ruhm, mit L’Orfeo 1607 die älteste Oper geschrieben zu haben, die auch heute noch regelmäßig auf die Bühne kommt. Also ist die Auffassung, dass mit Monteverdi vor 400 Jahren das Zeitalter der Oper begann, so abwegig nicht. Und durch diese ganze Periode zieht sich wie eine Perlenkette die Liste der Orpheus-Opern und Operetten, die an die 100 heranreicht und so bekannte Komponistennamen enthält wie Charpentier, Keiser, Telemann, Rameau, Gluck, Benda, v. Dittersdorf, Haydn, v. Winter, Offenbach, Krenek, Henze und Glass.

Georg Nigl (Orfeo)

Tänzerische Elemente im Musiktheater kann man sich bei Hirten und Nymphen gut vorstellen. Spätestens mit Glucks französischer Version seiner Orphée & Eurydice mit Ballett (Pina Bauschs Version der Oper befindet sich noch heute an der Opéra im Repertoire) ist es naheliegend geworden, den Stoff mit Tanz zu verbinden. „Sasha Waltz & Guests“ haben sich auch nun des Monteverdi-Werks angenommen und es in einer (es soll ihre letzte sein) Eigenproduktion herausgebracht. Dazu hat sich Sasha Waltz prominente Partner und Solisten ausgesucht. Die Produktion erfuhr durch die Nederlandse Opera am Muziektheater in Amsterdam im vergangenen September ihre Premiere und kam nun auch in Luxemburg heraus.

Die alternierende Instrumental- (sinfonie) und Vokalmusiknummern der Oper laden zu choreographischem Herangehen an das Werk ein. Aber nicht im Sinne von Balletteinlagen realisiert Regisseurin und Choreografin Sasha Waltz ihr Konzept, sondern sie sieht Instrumentalmusik, Gesang, Sprache, Tanz und Bühne als Einheit. Das führt dazu, dass die Choristen und Sänger tanzen und die Tänzer so tun, als ob sie singen. Folgerichtig ist auch das Orchester auf der Bühne platziert, geteilt zu beiden Seiten der Spielfläche. Man könnte es ein integriertes Mehrspartenprojekt nennen, ein Gesamtkunstwerk oder auch Theater total.

Ensemble Sasha Waltz & Guests

Es gibt natürlich Ausdruckstanzeinlagen zur Instrumentalmusik, Solo- oder Gruppentanz; so im Prolog beim fünfstrophigen Gesang der Allegorie Musica, zu dessen Ritornellen eine Solotänzerin schon das tänzerische Gesamtkonzept andeutet: Leichtigkeit und Ausdruck. Der musikalische Mittelpunkt der Oper, der Szene Caronte-Orfeo wird im Hintergrund durch einen Tanz der Geister untermalt. Ein weiteres Stilmittel ist es, Protagonisten solo oder im Duett (pas-de-deux) zu doppeln, wodurch im Einzelfall den Tänzern auch eine Person zugeordnet wird. Dazwischen gibt es die szenischen Tutti, in den Chor, Sänger und Tänzer sich gegenseitig durchwogen und in ihrer Gruppenzugehörigkeit aus der Ferne fast ununterscheidbar werden. Das alles geschieht ohne „Aufreger“; eine eher zurückhaltende auf Harmonie gerichtete Ästhetik herrscht vor. Zum Schluss werden gar alle Musiker, soweit sie ihr Instrument tragen können, zum Abschiedsreigen auf der gedrängten Spielfläche versammelt. Spätestens dann versteht man, warum auch die Musiker barfuß sind.

Alexander Schwarz hat ein sehr einfaches Bühnenbild entworfen. Durch die Überbauung des Orchestergrabens rückt alles näher ans Publikum. Hinter einer großen quadratischen Spielfläche als etwas erhöhte Plattform steht eine helle hölzerne Rahmenstruktur mit seitlichen Durchgängen. Die scheint stilisiert einem antiken Theater ohne bewegliche Bühnenteile nachempfunden. Aber dann bewegt sie sich doch: Die senkrechten Elemente drehen sich um 90° und geben den Blick auf die Hinterbühne – noch eine etwa gleichgroße Spielfläche – und den Bühnenprospekt frei, auf welchem durch einfache Projektion der Ort der Handlung abgebildet ist: entweder eine idyllische Waldlandschaft, aber auch der langsam strömende Styx. Ab dem vierten Akt bleibt die Bühne ganz leer. Die Spielfläche möbliert sich zuweilen mit dem Humanmaterial der Tanztruppe und des Chors; unter den vielen choreographischen Gruppenbildern ist es das eindrücklichste, wie sich die Tänzer mit langstieligen Blumen zu einer Blumenwiese auf der Spielfläche niederlegen. Die Kostüme von Beate Borrmann sind im Prinzip zeitneutral, wenn auch mit einem deutlichen Verweis auf die Gegenwart.

Luciana Mancini (Proserpina)

Die Regisseurin erzählt die Geschichte in etwa zwei Stunden reiner Spielzeit in einfacher Klarheit, zumindest was die individuierbaren Hauptpersonen anbelangt. Selbst die stark wirksamen tragödischen Mittelakte sind dabei noch von einer gewissen Heiterkeit durchzogen, die sicher von den Autoren der „favola in musica“ für ihr Publikum intendiert war. Obwohl düster wie ein Schattenspiel, entbehrt auch der Auftritt des stakenden Caronte und seine Einschläferung durch den Schöngesang des Orfeo nicht einer Humorkomponente ebenso wenig wie das Ertönen des Donnerblechs, nach welchem sich Orpheus erschreckt und verbotenerweise nach seiner Frau umsieht. Lediglich in dem tänzerisch zu einer Sinfonia inszenierten alternativen Ende des Stücks, das dem antiken Mythos folgt, geht es etwas herber zu. Nachdem Orpheus nach dem Verlust von Eurydike aller zukünftiger Liebe zum anderen Geschlecht abgeschworen hat, wandelt sich eine Gruppe Tänzerinnen in wütende Mänaden. Die haben in der Mythologie den Orpheus zerrissen. Sasha Waltz lässt ihm bloß eine ordentliche Abreibung mit grünen Zweigen verpassen, ehe dann doch Apollo als deus ex machina im Zuschauerraum erscheint und seinen Sohn in den Himmel erhebt.

Zu der Sasha Waltz & Guests agierte zu beiden Seiten der Bühne das Freiburger BarockConsort, ein Ensemble aus dem Freiburger Barockorchester, das mit etwa 25 Musikern auf Älteres und Kleineres spezialisiert ist. Es stand unter der Leitung von Torsten Johann, Mitbegründer des Freiburger Barockorchesters, der auch den Chor einstudiert hatte: das VocalConsort Berlin. Die Continuo-Gruppe und die dunklen Bläser standen/saßen rechts, die Streicher und Blockflöten links von der Spielfläche. Je nachdem, was sich auf der Bühne abspielte, hörte man Heiteres von links oder Düsteres von rechts. Dorther kamen das schnarrende Regal oder die charakteristischen Klänge der beiden Zinken, die zu Orpheus‘ zentralem Auftritt diesen nach den Geigen solistisch begleiteten. Es versteht sich, dass hier strikt auf Originalinstrumenten musiziert wurde. Die klare Raumakustik des Theaters verstärkte noch den Eindruck des transparenten und präzisen Musizierens. Wer die Partitur mit den Orchesterstimmen vervollständigt hatte, war dem Programm leider nicht zu entnehmen. Ein besonders Lob verdiente sich das Vocalconsort, das – obwohl szenisch stark gefordert – auch stimmlich einen überwältigenden Eindruck hinterließ.

Schlussreigen

Das recitar cantando des Monteverdischen Satzes gewährt dem Text eine Priorität (prima le parole), die noch in der französischen Barockoper herrschte, zu der dann aber erst Debussy und Strauss wieder zurückkehrten. Aber es gibt auch Ariosi, die zusammen mit dem variantenreichen Einsatz der Orchesterstimmen dem Affekten-Kanon des späteren Barock vorgreifen. Diesen gestaltete Georg Nigl als Orpheus (zu Recht heißt die Oper L’Orfeo, denn er war im Dauereinsatz, und ihm wurden keine Tanz-Einlagen zugemutet) mit seinem hellen und hohen Bariton besonders eindrucksvoll, wobei seine stimmlichen und darstellerischen Mittel in guter Balance standen. Bravourös seine leichten und eleganten Koloraturen, dazu beste Textverständlichkeit. Anna Lucia Richter mit hellem, sehr schlankem Sopran hatte als Musica mehr zu singen denn als Euridice. Charlotte Hellekant war als Messagiera und als Speranza besetzt; vielleicht mit etwas zu üppigem Mezzo für Barockmusik, aber wohklingend und als Darstellerin von hinreißender Bühnenpräsenz. Als tiefer sonorer Bassbariton überzeugte Douglas Williams in der Rolle des Caronte. Der junge elegante Bassbariton Konstantin Wolff hatte als Plutone nur einen Auftritt im vierten Akt und zeigte sich dem Ansinnen seiner Frau Proserpina gegenüber aufgeschlossen. Diese sang Luciana Mancini mit kraftvollem weich timbriertem Mezzo, aber schlechter Textverständlichkeit. Julián Millán erschien als Apollo, Eco und vierter Hirte mit etwas halsigem Bariton. In den übrigen kleinen Doppelrollen sangen Cécile Kempenaers (Nymphe und erster Hirte), Kaspar Kröner (2. Hirte und Geist), Kevin Skelton (3. Hirte und Geist), Hans Wijers (5. Hirte und Geist).

Großer Beifall aus dem sehr gut besuchten Haus beendete den Abend. Diese Orfeo-Produktion zieht nun wie ein Wandertheater weiter. Nächstes Jahr ist sie am 10.06.15 beim Bergen International Festival in Norwegen zu sehen, danach im Riesensaal des Festspielhauses Baden-Baden am 19. und 21.06.15, ehe sie ab 1. Juli nach Berlin kommt, um dort innert sechs Tagen fünf Aufführungen zu erleben.

Manfred Langer, 11.06.2014
Fotos: Monika Rittershaus