Athens & Epidauros Festival
Im Morast der Schuld
Es ist schon ein besonderes Ereignis fuer das Athens & Epidauros Festival, wenn der aelteste, nach wie vor aktive Theaterbetrieb der Welt, die Pariser Comedie-Francaise im antiken Theater von Epidauros Station macht. In einer Koproduktion mit dem Festival zeigt das franzoesische Theater die Dramen „Elektra“ und „Orest“ von Euripides. Der belgische Regisseur Ivo van Hove hat auch in Griechenland einen guten Namen und sorgt dafuer, dass theaterbegeisterte Athener in Scharen per Bus und Auto nach Epidauros aufbrechen. Man war im Vorfeld sehr gespannt, welchen Blick van Hove auf die blutige Familiengeschichte der Atriden werfen wird und wie er die Herausforderung des einzigartigen Buehnenorts zu bewaeltigen vermag.
Buehnenbild und Licht von Jan Versweyveld setzen auf eine einfache, klare Formensprache. Da gibt einen Schauplatz, der ein kubisches Haus in morastiger Landschaft zeigt, und einen als Steg angelegten Weg, der dorthin fuehrt. Man darf den Schlamm im Buehnenrund wohl in doppelter Weise lesen: als Hinweis auf das primitive Leben, welches die verstossene Elektra zu fuehren hat, aber auch und vor allem im zweiten Teil des Abends als Symbol fuer den Morast der Schuld, welcher das Herrschergeschlecht von Argos umgibt und in den Abgrund reisst. Ivo van Hove haelt sich in seiner Inszenierung der beiden Dramen, welche das Ensemble in zeitlos-moderne Kostueme (An D’Huys) huellt, nicht lange mit den Chorszenen auf, welche stark gekuerzt daherkommen und mehr als choreographische Einlagen dienen. Fuer diesen taenzerischen Part zeichnet sich immerhin kein geringerer als Wim Vandekeybus verantwortlich. Der Regisseur setzt den Fokus auf die individuellen Aspekte und Schicksale, er laesst das verkuerzt zur Auffuehrung gebrachte Geschehen um die wesentlichen Fragen von Schuld, Suehne und Recht kreisen. Bedauerlicherweise gewinnt die Personenfuehrung erst im zweiten Teil des rund zweistuendigen Abends an Praezision und Klarheit. So wirken die Darstellerinnen und Darsteller bisweilen etwas verloren im weiten Raum des antiken Theaters und die Beziehungen zwischen den Figuren werden nur partiell sichtbar. Der von Eric Sleichimgestaltete Soundsacpe der Auffuehrung, welcher von Live-Perkussion und elektronischer Musik gepraegt ist, vermag einige starke Akzente zu setzen, verbindet sich aber wie der taenzerische Part nicht recht mit Ivo van Hoves Blick auf die Figurenschicksale.
Das Ensemble auf der Buehne zeigt eindrucksvolle Leistungen, insbesondere Suliane Brahim als Elektra, Christophe Montenez als Orest und Elsa Lepoivre als Klytaimnestra und Helena. Didier Sandre als Tyndareos bringt seinen Monolog mit beeindruckender, der klassischen franzoesischen Buehnensprache folgender Diktion ueber die Rampe. Daneben sind Denis Podalydes als Menelaos, Loic Corbery als Pylades, Rebecca Marder als Hermione und Gael Kamilindi als Apoll positiv hervorzuheben. Der Chor wird den sprachlichen und taenzerischen Herausforderungen gleichermassen gerecht. Die Musiker Adelaide Ferriere, Emmanuel Jacquet, Othman Louati und Rodolphe Thery bieten erstklassige Leistungen. Ivo van Hoves Inszenierung der beiden Euripides-Dramen weist eine gute Narration auf, sorgt mit Schlamm und Blut fuer starke Effekte und – dies muss angesichts der eher traditionellen Praegung der meisten Epidauros-Produktionen betont werden – ein ‚zeitgenoessisches‘ Outfit, bleibt aber ueber weite Strecken zu wohlgefaellig. Man haetten sich mehr Zumutungen (Ideen!) gewuenscht und weniger Mainstream. Gleichwohl ist es ein interessanter Abend, der einige Anregungen bereithaelt.
Das Publikum spendet am Schluss kraeftigen Applaus, ein Teil der Zuschauer reagiert mit Begeisterung.
Ingo Starz 7.8.2019
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Photo (c) Evi Fylaktou