Premiere: 24.10.2015
Die Hexe als verzerrtes Angstbild der Mutter
Zu einem enormen Erfolg für alle Beteiligten geriet am Theater der Stadt Heidelberg die Neuproduktion von Humperdincks „Hänsel und Gretel“. Die Aufführung war in jeder Beziehung beeindruckend. Dass man am Heidelberger Theater aber durchweg erste Qualität geboten bekommt, ist schon lange kein Geheimnis mehr. Das Niveau dort ist in jeder Beziehung hoch.
Ks. Carolyn Frank (Gertrud), Elisabeth Auerbach (Hänsel), Hye-Sung Na (Gretel), James Homann (Peter)
Bei diesem Werk stellt sich für jeden Regisseur die Frage, wie er es in Szene setzt: Betont er die märchenhaften Elemente oder gibt er seiner Inszenierung einen mehr geistig-intellektuellen Anstrich? In Heidelberg wählte Clara Kalus einen Mittelweg. Zusammen mit Nanette Zimmermann (Bühnenbild) und Maren Steinebel (Kostüme) schuf sie eine Produktion, die einerseits ausgesprochen psychologisch gehalten ist und Denkanstöße gibt, andererseits aber durchaus auch kindgerecht anmutet. Sowohl die Oper als auch das Märchen werden vom Regieteam ernst genommen, die daraus resultierende Gratwanderung zwischen anspruchsvollem Musiktheater und Märchenoper ist vollauf gelungen. Man kann sich an den Bildern und den Kostümen freuen, wird aber gleichzeitig auf verstandesmäßiger Ebene sehr gefordert. Hier haben wir es also mit keiner Inszenierung zu tun, bei der man sich nur bequem in den Sitz zurücklehnen und das Dargebotene in vollen Zügen genießen kann. Vielmehr ist eine sachliche Reflexion auf rationalem Terrain angesagt. Gleichzeitig wird aber auch dem Auge einiges geboten wie beispielsweise der von ausgesprochenen Köstlichkeiten bedeckte Kuchentisch der Hexe. Gerade diese treffliche Kombination ist es, die den Premierenabend in szenischer Hinsicht so ungemein interessant und spannend erscheinen ließ.
Hye-Sung Na (Gretel), Elisabeth Auerbach (Hänsel)
Frau Kalus hat sich über das Stück ausgezeichnete, stimmige und nachvollziehbare Gedanken gemacht, die sie mit einer bis ins Detail flüssigen und logischen Personenregie hochkarätig umsetzte. Ihre Regiearbeit beinhaltet die verschiedensten Aspekte, ist sowohl Märchen als auch Emanzipations- und Pubertätsgeschichte, gleichzeitig aber auch psychologische Studie. Dabei gilt ihr Interesse nicht ausschließlich dem Geschwisterpaar, sondern in hohem Maße auch der Mutter Gertrud. Diese Figur wird von ihr nach allen Regeln der Kunst hinterfragt und zur heimlichen Hauptfigur des Stückes erhoben. Hier haben wir es mit einer äußerst ambivalenten Figur zu tun mit zahlreichen charakterlichen Facetten. Sie ist nicht eigentlich böse, aber die äußere Not ihres beengten Daseins hat sie in einen seelischen Ausnahmezustand getrieben, der sie den Kindern gegenüber als hartherzig erscheinen lässt.
Hye-Sung Na (Gretel), Elisabeth Auerbach (Hänsel), Kinder- und Jugendchor
Im Besenbinder-Haus werden Hänsel und Gretel in bürgerlicher Strenge erzogen. Auf Tischmanieren und sauber gefaltete Servietten wird großer Wert gelegt. Selbstverständlich ist auch, dass man sich über die wohl nicht allzu gut schmeckende Suppe nicht beschwert. Nahrung ist immerhin Mangelware. Die Armut regiert das Leben und treibt insbesondere Gertrud zur Verzweiflung. Sie weiß sich allmählich nicht mehr zu helfen und wird aus einer Art Ohnmacht heraus ungerecht zu den Kindern, die sie an sich liebt. Ganz klar, dass die Geschwister von ihrem beschränkten Verständnishorizont aus die Verhältnisse daheim anders wahrnehmen als ihre Eltern und danach trachten, sich von diesen zu emanzipieren und endlich erwachsen zu werden. Andererseits können sie nicht ertragen, dass die Mutter traurig ist und sich ihnen verweigert. Irrigerweise schieben sie sich die Verantwortung dafür zu, was sie schlussendlich in den durch Projektionen erzeugten Wald, in das verworrene innere Dickicht ihrer ausgeprägten Schuldgefühle treibt. Dieser ist weniger realer als vielmehr symbolischer Natur und meint den Abstieg der Geschwister in das Unterbewusste. Das Verirren im Wald steht für eine Selbstfindung, die Hänsel und Gretel durchlaufen müssen, um endlich erwachsen zu werden. Ihre Entwicklung wird in der Pantomime in überzeugender Art und Weise aufgezeigt: Immer mehr Alter Egos der Geschwister in verschiedenen Altersstufen wandeln über die Bühne, erscheinen als Kinder, Teenager, junge Erwachsende, alte Leute und schließlich sogar als Engel. Die ganze Entwicklung eines Menschenlebens bis hin zum Tod wird hier aufgezeigt und der Weg der beiden kleinen Träumer vorweggenommen.
Irina Simmes (Taumännchen)
Letztlich handelt es sich hier aber um Phantasiegebilde von Hänsel und Gretel. Strenggenommen spielt sich alles aus ihrer Perspektive ab. In Anlehnung an Sigmund Freuds „Traumdeutung“ erzeugt der Wald in ihnen Angstvisionen, deren größte die Hexe ist. Diese stellt im Kontext der Inszenierung durchaus nachvollziehbar ein verzerrtes Spiegelbild der Mutter dar und ist als alptraumhafte Charakterisierung Gertruds sowie als tiefster Punkt der furchtsamen Wanderung der beiden Protagonisten in sich selbst hinein zu begreifen – ein phantastischer, psychologisch ausgesprochen fundiert anmutender Einfall von tiefem Gehalt, der der Regisseurin alle Ehre macht. Konsequenterweise hat Frau Kalus beide Partien derselben Sängerin anvertraut. Erst wenn die Hexe im Backofen verbrannt ist und die Kinder damit symbolhaft ihre Angst überwunden haben, kann sich das Verhältnis zu ihrer Mutter wieder normalisieren, die zum Schluss alle hexenhafte Elemente verloren hat und endlich fähig ist zu zeigen, dass sie ihre Kinder trotz allem doch lieb hat. Auf dem Weg zum Erwachsenwerden haben Hänsel und Gretel eine nicht unerhebliche Hürde genommen und sind nun fähig, das Verhalten ihrer Eltern besser zu begreifen als zuvor. Das war alles sehr überzeugend.
Elisabeth Auerbach (Hänsel), Hye-Sung Na (Gretel)
Auf hohem Niveau bewegten sich auch die gesanglichen Leistungen. Hye-Sung Na war schon aufgrund ihrer sehr zierlichen Erscheinung rein äußerlich eine Idealbesetzung für die Gretel. Mit aufgewecktem Spiel und einem in allen Lagen gut ansprechenden, bestens fokussierten Sopran entsprach sie ihrer Rolle voll und ganz. Weniger burschikos als man es von anderen Inszenierungen her gewohnt ist, legte Elisabeth Auerbach den Hänsel an, den sie mit ausgeprägtem, emotional eingefärbtem Mezzosopran auch hervorragend sang. Ks. Carolyn Frank hat in Einklang mit der Regie die Ambivalenz der vorübergehend zur Hexe mutierenden Mutter Gertrud trefflich herausgestellt. Auch gesanglich hatte sie einen guten Tag und überzeugte mit einem insgesamt gut verankerten Mezzo-Sopran, der lediglich bei einigen Passagen der Zauberin rollenadäquat etwas härter klang. Zum szenischen Höhepunkt geriet der Hexenritt, als sie auf einer Art Lampe gänzlich ungesichert in die Lüfte entschwand. Ein stimmlich robuster, mit schöner italienischer Technik und ausdrucksstark singender Besenbinder Peter war James Homann. Als echte Luxusbesetzung für das Sand- und das Taumännchen erwies sich die wunderbar warm und gefühlvoll sowie mit ausgeprägtem lyrischem Feinschliff singende Irina Simmes. Eine ansprechende Leistung erbrachte der von Anna Töller einstudierte Kinder- und Jugendchor des Theaters und Orchesters Heidelberg.
Ks. Carolyn Frank (Hexe), Hye-Sung Na (Gretel)
Nicht weniger beeindruckend war das, was an diesem gelungenen Abend aus dem Orchestergraben tönte. Dietger Holm dirigierte das Philharmonische Orchester Heidelberg recht intensiv und mit großer Frische, wobei er neben den mehr volksliedhaften Elementen auch den Einfluss Wagners auf die Partitur nicht verleugnete. Da ging es im Orchester manchmal schon ausgesprochen rasant und fulminant zu, sodass die Sänger manchmal ein klein wenig zugedeckt wurden.
Ludwig Steinbach, 26.10.2015
Die Bilder stammen von Annemone Taake