WA am 3.10.2016, Premiere: 29.5.2016
Die Kunst der Selbstdarstellung
Am Theater der Stadt Heidelberg ist mit großem Erfolg Andrea Schwalbach s im Bühnenbild von Nanette Zimmermann und den Kostümen von Frank Lichtenberg spielende, bereits letzte Spielzeit entstandene Inszenierung von Puccinis „La Bohème“ wiederaufgenommen worden. Und erneut wurde das hohe Niveau dieses mittelgroßen Hauses offenkundig. Alles wirkte wie aus einem Guss. Inszenierung, musikalische und gesangliche Leistungen fügten sich zu einer überzeugenden Symbiose zusammen.
Alexander Geller (Rodolfo), Wilfried Staber (Colline), James Homann (Schaunard), Ipca Ramanovic (Marcello)
Überzeugend war bereits die interessante Regie. Sie verstehen sich schon ausgezeichnet auf die Kunst der Selbstdarstellung, die vier Bohemièns Rodolfo, Marcello, Schaunard und Colline. Sie hausen in einer modernen Wohngemeinschaft und haben ihr eigenes Leben kurzerhand zur Kunst erhoben. Der aufgesetzt wirkende, künstliche Humor soll ihnen helfen, die Widrigkeiten des Alltags zu bewältigen. Dabei warten die Freunde auch mit einer ausgeprägten schauspielerischen Ader auf. Wir haben es hier mit einer groß angelegten Performance zu tun, in der jeder den anderen etwas vorspielt. Demgemäß stellt die Mansarde in Frau Schwalbachs Deutung ein Theater auf dem Theater dar, das von Schriftzügen in verschiedenen Sprachen wie „Kunst ist die schönste Lüge“, „Live ist not an rehearsel“, „Flamme éternell“, „La realité n’existe pas“ und „Normale Desires“ eingenommen wird – Ausdruck eines Lebensgefühls, das angesichts existentieller Nöte etwas aufgesetzt wirkt. Die vier Gefährten tragen gleichsam eine unsichtbare Maske. Das von Nöten geprägte Leben des Einzelnen findet sich in gleicher Weise bei den anderen. Jeder nimmt am Dasein seiner Freunde teil, das er voll und ganz akzeptiert. Alle spielen Leben.
Ipca Ramanovic (Marcello), Hye-Sung Na (Mimi), Alexander Geller (Rodolfo)
Dieses Prinzip der Selbstinszenierung und das Verstecken hinter Larven funktioniert indes nur so lange, wie Gefühle nicht ins Spiel kommen, so im ersten und dem ungemein farbenprächtig und mit opulenten Chor-Kostümen in Szene gesetzten zweiten Akt. Im von einer auf einem Hintergrundprospekt aufragenden Schneelandschaft vor einer Hochhausfassade dominierten dritten Akt ändert sich dann aber die Situation und das Ganze nimmt die Dimension eines Psychodramas an. Die Beschränkung auf die Selbstdarstellung der Figuren wird brüchig. Nun spielen bloße Äußerlichkeiten keine Rolle mehr. Das Leben mit den Mitmenschen tritt an ihre Stelle. Mitgefühl und vor allem Liebe beherrschen die Szene. Hier dringt Andrea Schwalbach gekonnt bis zum Grund der Seele der Protagonisten vor. Das gelingt ihr mittels einer ausgefeilten Personenregie. Bereits vorher war ihre Führung der Handlungsträger recht stringent und abwechslungsreich. Auch auf Tschechow’sche Elemente versteht sie sich trefflich. Mehrmals gönnt sie im Lauf des Abends den Beteiligten auch an Stellen Auftritte, an denen Puccini solche gar nicht vorgesehen hat. So beobachtet die zierliche Kindfrau Mimi von Anfang an von ihrem mit Blumen und Kuscheltieren eingerichteten, auf der rechten Seite der Bühne liegenden Gemach aus das Treiben der Bohemièns. Marcello, Colline und Schaunard bleiben während der Szene von Rodolfo und Mimi im ersten Akt noch eine Weile präsent. Im vierten Aufzug betreten die todkranke Mimi und Musetta ebenfalls früher als normal die Bühne, setzen sich hin und werden auf diese Weise Zeuginnen der ausgelassenen Aktivitäten der vier Freunde. Einmal werden sie auch in deren Spiel einbezogen. Derartige Regieeinfälle lassen die Inszenierung abwechslungsreich und spannend erscheinen.
Musetta, Ipca Ramanovic (Marcello)
Besonders interessant ist Frau Schwalbach in diesem Kontext die Figur der Mimi gelungen. Von Anfang an sehnt sie sich danach, ein Teil des Bohemièn-Kollektivs zu werden. Insbesondere Rodolfo ist sie sehr zugetan. Marcello, Schaunard und Colline bemerken dann auch, wie es um sie steht. Im Folgenden geben sie ihr die Möglichkeit, an ihrer Selbstinszenierung teilzunehmen. Nur Rodolfo muss noch überzeugt werden. Demgemäß gibt Schaunard Mimi die Kerze, die im Folgenden nicht von alleine ausgeht, wie es im Libretto vorgegeben ist, sondern von Mimi selbst ausgeblasen wird. Dieser Regieeinfall ist indes nicht mehr neu. Das hat man bei Harry Kupfer schon ähnlich gesehen. Fast heiter mutet der Augenblick an, in dem Mimi von Rodolfo geküsst werden will und deshalb einen Kussmund macht. Sie hat es schon faustdick hinter den Ohren. Sie ist eine Frau, die weiß, was sie will. Bemerkenswert ist, dass ihre Krankheit von Anfang an ebenfalls Selbstdarstellung ist, Ausdruck der großen Schauspielkunst der Näherin, die sogar ihren Tod zu inszenieren scheint. Um die Fassade aufrecht zu erhalten benötigt Mimi indes die Bohemièns, deshalb will sie in deren Kreis aufgenommen werden. Sie geben ihr die Illusion, ihr Leiden unter Kontrolle zu haben. Wenn diese Fiktion dann aber im dritten Akt bricht, hat es auch damit ein Ende. Im letzten Akt wird nachhaltig der Boden der Tatsachen betreten. Das Phantasiegebilde birst. Mit dem Sterben Mimis endet auch die Selbstdarstellung der Bohemièns. Die Gefühle brechen sich ihre Bahn. Angesichts des Todes fällt jegliche Art von Selbstinszenierung in sich zusammen. Das war alles sehr überzeugend und von der Regisseurin hervorragend umgesetzt.
Hye-Sung Na (Mimi), Rodolfo
Auch mit den gesanglichen Leistungen konnte man fast durchweg voll zufrieden sein. Bis auf eine Ausnahme. Diese bestand in Alexander Geller in der Rolle des Rodolfo. Eigentlich über angenehmes Tenormaterial verfügend, tat er sich in der Höhe sehr schwer. Mehrmals kam es vor, dass er bei Spitzentönen die Stütze verlor, woraus ein doch sehr fragwürdiger Klang resultierte. Das geht überhaupt nicht! Die anderen Sänger der Hauptpartien waren ihm stark überlegen. Wunderbar war Hye-Sung Na anzuhören, die mit sauber fokussiertem Sopran, hoher Nuancierungskunst und sicheren Höhen ein Maximum an Gefühlen in die Rolle der Mimi legte, die sie auch anrührend spielte. Von den Männern am besten war Ipca Ramanovic, der mit herrlich italienisch geschultem, über ein gutes Legato verfügendem und elegant phrasierendem sonoren Bariton einen ausgezeichneten Marcello sang. Eine hoch erotische, schnippische Musetta war Rinnat Moriah, die sie mit solide durchgebildetem Sopran auch ansprechend sang. Fast schon überbesetzt mutete der treffliche Heldenbariton von James Homann als Schaunard an. Markantes Bassmaterial brachte Wilfried Staber für den Colline mit. Ordentlich ergänzten Philipp Stelz (Benoit), David Otto (Alcindoro, Sergeant, Zöllner) und Yang-O Na (Parpignol). Tadellos präsentierte sich der von Anna Töller einstudierte Chor und Extrachor des Theaters und Orchesters Heidelberg.
Rinnat Moriah (Musetta), Ipca Ramanovic (Marcello)
Eine gute Leistung ist GMD Elias Grandy am Pult zu bescheinigen, der zusammen mit dem bestens disponierten Philharmonischen Orchester Heidelberg Puccinis Partitur mit herrlicher Italianita und sehr gefühlsbetont zum Klingen brachte. Insbesondere die reichhaltigen Kantilenen waren wunderbar anzuhören. Aber auch die mehr parlandoartigen Stellen haben Dirigent und Orchester prägnant zu Gehör gebracht.
Ludwig Steinbach, 4.10.2016
Die Bilder stammen von Annemone Taake