Köln: „Das Rheingold“ konzertant

Rezension der Aufführung am 18.11.2021

Richard Wagner

Es ist nicht die erste konzertante Aufführung des „Rheingolds“ in der Kölner Philharmonie, aber eine mit besonderem Anspruch. Das Orchester ist anders aufgestellt als sonst, je zwei Kontrabässe und zwei Harfen auf jeder Seite, die Celli rund um Geigen und Bratschen. Es wird auf Originalklanginstrumenten gespielt und in historischer Aufführungspraxis gesungen.

Mit sehr tiefem Streicherklang erhebt sich das Vorspiel, die Rheintöchter erscheinen und necken den „zankenden Zwerg“ Alberich, der bei keiner von ihnen landen kann. So entsagt er der Liebe und gewinnt die Fähigkeit, aus dem Rheingold, das er den Rheintöchtern stiehlt, einen Ring zu schmieden, der unendliche Macht verleiht. Der Rest ist bekannt: Der Ring des Nibelungen bringt Unglück, dem, der ihn besitzt, und Sorge denen, die nach ihm gieren.

Diese Parabel über den Gang der Weltgeschichte hat Richard Wagner in das Gewand der Figuren der Nordischen Mythologie gesteckt. Generationen von Regisseuren haben sich an der szenischen Umsetzung abgearbeitet, auch kleinere Stadttheater haben sich hin und wieder an diesem 16-stündigen Gesamtkunstwerk mit mehr oder weniger großem Erfolg versucht. Die Tetralogie, die Richard Wagner in einem Zeitraum von 25 Jahren schuf und 1876 im eigens für die Aufführung seiner Werke in Bayreuth erbauten Festspielhauses uraufführen ließ, wird an allen Häusern mit Weltgeltung im Repertoire geführt.

Die Protagonisten sind in Köln absolut typgerecht besetzt. Derek Welton als Wotan mit seinem voluminösen und wohlklingenden Bassbariton ist der charismatische Fürst, der seine Macht aus Verträgen und eben auch aus dem Nimbus seiner sozialen Stellung bezieht. Ihm traut man auch seine zahllosen Amouren zu, aus denen die Walküren und Siegmund und Sieglinde als uneheliche Kinder stammen. Er ist der Herrscher, der im Interesse des Machterhalts mittels Lügen und Intrigen Konflikte aussitzt und die Erneuerung aus eigener Kraft verpasst. Thomas Mohr als Loge, der skrupellose Ausputzer im Dienst dieses Fürsten, ist für mich die zentrale Gestalt dieses Dramas, denn mit technisch perfekter Artikulation verleiht er diesem amoralischen Intellektuellen Kontur. Er, der Gott des Feuers, kann als Identifikationsfigur für Anwälte und Strategen aller Art herhalten, die ihren Intellekt jedem zur Verfügung stellen, der die Macht besitzt, und geht am Schluss zu seinen Taten auf Distanz. Eine faszinierende Charakterstudie!

Daniel Schmutzhard als Alberich ist der vom Schicksal benachteiligte Mann, der sich vergebens um die Gunst der Rheintöchter bemüht. Dass Wagner ihn als „Zwerg“ charakterisiert zeigt eigentlich nur, dass er ein Außenseiter der Gesellschaft ist. Als er des Rheingolds habhaft werden kann raubt er es den Rheintöchtern und wird zum kapitalistischen Ausbeuter, der auch seinen eigenen Bruder Mime, den Schmied, versklavt. Thomas Ebenstein als Mime gibt ein Lehrstück von Kreischen, Wimmern und Schreien, als er von Alberich verprügelt wird. Die Riesen Fafner (bassgewaltig Christoph Seidl als durchsetzungsstarker Bauunternehmer) und Fasolt (anrührend: Tijl Faveyts als verliebter harter Kerl mit weichem Kern, der nicht von Freya lassen möchte und den Deal um den Ring mit dem Leben bezahlt) stehen für das aufstrebende Bürgertum. Auch hier korrumpieren Machtstreben und Gier menschliche Beziehungen.

Gerhild Romberger als Erda warnt Wotan davor, sich an den Besitz des Rings zu klammern, als der Konflikt um die Auslösung Freyas auf der Spitze steht. Ihr Auftritt auf einem der Balkone mit mystischer Beleuchtung ging wirklich unter die Haut.

Die Rheintöchter Ania Vegry, Ida Aldrian und Eva Vogel, naive junge Frauen, die das Geheimnis des Rheingolds arglos verraten und lebhaft seinen Verlust betrauern, fallen durch fast theatralischen Sprechgesang auf. Vor allem am Schluss, als ihre Klage von der oberen Reihe kommt, ist man beeindruckt. Sie können als Fürsprecherinnen der durch die Ausbeutung durch den Menschen geschädigten Natur interpretiert werden.

Stefanie Irányi als Fricka gibt die selbstbewusste Ehefrau, die endlich ihren promisken Gatten in der Häuslichkeit Walhalls domestizieren will, was – wir wissen es – gründlich schiefgeht. Den Klagen der schönen Freya, als Beutestück unter den agierenden Männern verschachert, gibt Sarah Wegener anrührende Kontur, und mit jugendlichem Ungestüm verkörpern Tansel Akzeybek (Froh) und Johannes Kammler (Donner) die Söhne Frickas.

Die Sängerschaft verwendete nicht nur ungewöhnlich viel Sorgfalt auf eine perfekte Artikulation, sie setzte auch Wagners szenische Anweisungen in Gesten um. Forschungsergebnisse der Universität Halle über die korrekte Phonetik und Akzentuierung des korrekten überregionalen Bühnendeutsch wurden berücksichtigt, und es hat wohl selten so lange Probenzeiten für ein Stück gegeben. Es wurde viel mehr als in herkömmlichen Aufführungen sprachlich ungewöhnlich klar gesungen, gekreischt und geschrien. Gerade sehr wichtige Stellen wurden gesprochen, nicht gesungen. Die zwei Stunden 16 Minuten Aufführungsdauer vergingen wie im Fluge, und ich habe mir die szenische Realisation aus dem bildstarken Hilsdorf-Ring in Düsseldorf dazu vorgestellt.

Der Kalifornier Kent Nagano kann als Motor dieses Projekts gelten. Seine internationale Reputation als Experte für Neue Musik hat ihn wohl als Zugpferd prädestiniert. Er hat zum Beispiel 2000 die Uraufführung von „L´amour de loin“ der finnischen Komponistin Kaija Saariaho bei den Salzburger Festspielen dirigiert, Spektralmusik und die erste erfolgreiche Oper, die von einer Frau komponiert wurde. Bis 2015 war er Chefdirigent der Münchner Staatsoper, danach der Hamburger Oper. Seit 2019 ist er Ehrendirigent beim Concerto Köln, einem für seine Aufführungen von Barockmusik preisgekrönten Ensemble, das sich für die „Wagner-Lesarten“ von rund 20 auf fast 100 Musiker vergrößert hat, die alle für die historisch informierte Aufführungspraxis brennen. Noch bis zum 27. April 2022 ist der Stream ihrer Aufführung von Beethovens „Missa Solemnis“ und dem „Gesang der Jünglinge im Feuer“ von Stockhausen im Kölner Dom verfügbar, bei der die Kooperation Naganos mit dem Concerto Köln zu einem der künstlerischen Höhepunkte des Beethovenfests führte.

Das Projekt „Wagner-Lesarten“ wurde federführend von Musikwissenschaftlern der Hochschule für Musik und Tanz, Köln, von einem großen musikwissenschaftlichen Forschungsteam begleitet, und man hat sich sehr viel Zeit genommen, nicht nur historische Instrumente aus Wagners Zeit zu restaurieren oder, unter anderem vier „Münchner Oboen“ und zwei Wagner-Tuben, nachzubauen. Die Streichinstrumente haben Darmsaiten und klingen viel weicher und nicht so laut wie moderne Instrumente. Das Orchester unter der künstlerischen Leitung von Alexander Scherf folgt in der Aufstellung dem Vorbild der Münchner Hofkapelle, die 1882 Wagners Parsifal zur Uraufführung brachte.

Der Kammerton ist auf 435 Hz gestimmt, DIN ist 440 Hz und die Wiener Philharmoniker spielen dennoch mit 444 Hz, wodurch der Klang schärfer wird. Zu Wagners Zeit gab es noch keinen allgemein verbindlichen Kammerton, aber Wagner selbst hat a =435 Hz festgelegt, und man hat auch seine weiteren Anweisungen bezüglich der Orchesterpraxis berücksichtigt. Die „Wagner-Lesarten“ in historischer Aufführungspraxis haben einen wissenschaftlichen Anspruch und sollen als Denkanstoß dienen. Auch Wagners Art des Einstudierens der Partien durch die Sänger wurde erforscht und nachvollzogen. So habe man stundenlang an der Szene der Rheintöchter geprobt. Hilfreich waren umfangreiche Aufzeichnungen von Wagners Starsängerin Wilhelmine Schröder-Devrient, die von Wissenschaftlern der Universität Halle ausgewertet wurden. Wagner soll darauf bestanden haben, dass die Sänger zuerst ihre Rollen ohne Musik sprechen, dann mit Begleitung sprechen und erst ganz zum Schluss mit Begleitung singen. Jeder solle das gesamte Werk kennen, nicht nur seine eigene Partie. Und es müsse „gutes Deutsch“ gesprochen werden, zum Beispiel in allen Fällen das Zungenspitzen-R gerollt. Es fehlt eigentlich nur die szenische Realisierung, idealerweise in Bayreuth, die Richard Wagner für sein Gesamtkunstwerk plante und 1876 umsetzte. Leider sei Katharina Wagner seiner Einladung zum Konzert nicht gefolgt, merkte Philharmonie-Intendant Langevoort an, aber es liefen bereits Gespräche mit anderen Häusern.

Man kann zu Recht gespannt sein auf die drei weiteren Teile, die im Abstand von jeweils einem Jahr folgen werden, denn die konsequente Textarbeit und das akribische Üben und Proben mit den historischen bzw. historisch informierten Instrumenten führt zu einem sensationellen Theatererlebnis. Die alten Instrumente sind deutlich leiser, die Sänger werden niemals zugedeckt, und daher sind die deklamierten Texte sehr gut verständlich. Die Abwesenheit von Bühnenbildern, Kostümen und Requisiten führt dazu, dass man die politische Brisanz der Konflikte erkennt. Es geht eben nicht um den nordischen Gott Wotan, sondern um den zeitgenössischen Adel, dessen Macht immer mehr verfällt und der vom aufstrebenden Bürgertum, das seine Bedeutung aus dem durch Ausbeutung der Natur und der Mitmenschen erworbenen Reichtum erhält, abgelöst wird. Darüber hinaus sind Erda und die Rheintöchter Fürsprecherinnen der geschundenen Natur, die nur auf eine Art und Weise gerettet werden kann.

Ursula Hartlapp-Lindemeyer, 24.11.21

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