Berlin: „Die Gezeichneten“

Aufführung am 21.01.2018

Selbstanalyse

Tief wühlt Franz Schrekers erotisch flirrende Musik in den seelischen Abgründen der Menschen und der Menschheit, bohrt sich schraubenartig durch die Schichten, legt Verborgenes frei. Noch tiefer bohrt Calixto Bieito in seiner Inszenierung von DIE GEZEICHNETEN an der Komischen Oper Berlin, exponiert diese von ihren Trieben, ihrem kaum mehr unterdrückten perversen Verlangen Getriebenen, am psychischen Abgrund dahinschrammenden Figuren in einer traumatisierenden, zu tiefst beängstigenden Realisierung des Werks. Dabei vergewaltigt der Regisseur jedoch weder das Stück noch die Musik, sondern legt auf eine schon beinahe moralisierende Art die Perversion der Gesellschaft offen, in der (einmal mehr) die Männer die Schweine sind.

Positive Figuren, mit denen man (Mann) sich identifizieren könnte oder möchte, sind weder im Werk noch in der Umsetzung durch Bieito und sein Team vorgesehen. Rebecca Ringst hat dafür einen weissen, aseptischen Raum geschaffen, der zwar die gesamte Bühnenbreite einnimmt, aber wenig in die Tiefe reicht. Er wird nach hinten abgeschlossen durch eine Wand aus rechteckigen Spanplatten – und man ahnt es schon, dahinter verbergen sich geheime Wünsche, ein „Elysium“, das sich der reiche, aber missgestaltete und hässliche Alviano geschaffen hatte. Bei Bieito ist es nun nicht eine Paradies der sexuellen Lüste von Erwachsenen, sondern er nimmt das Textbuch wörtlich, beinahe zu wörtlich, er nimmt also den von Schreker selbst verfassten, die dekadente Fin de siècle Stimmung Wiens symbolistisch verarbeitenden Text ernst: Darin wird von der Entführung von „Töchtern“ Genuas berichtet, welche von den chauvinistischen, geilen Adligen verschleppt und auf dieser Insel der Lustbefriedigung missbraucht werden.

Bieito nun nimmt die „Töchter“ wörtlich, fügt auch die „Söhne“ hinzu – es geht bei ihm also um Pädophilie, um Kindesmissbrauch, um einen ganzen Ring von Kinderschändern, angeführt von den Mächtigen der Gesellschaft, den Militärs, den Politikern, den biederen Studienräten, den neureichen Lebemännern (Adrian Strooper, Ivan Turšić, Tom Eric Lie, Johnathan Mc Cullough, Önay Köse, Samuli Taskinen). Ingo Krügler hat dazu die passenden Kostüme entworfen. Dieses Elysium nun entpuppt sich nicht als Lustgrotte à la Neuschwanstein, sondern als ein Disneyland, ein Toy Story Vergnügungspark für Kinder, mit Tedddybären, die vom Bühnenhimmel schweben, aufblasbaren Schwimmtieren, giftgrünen Riesenraubkatzen und einer gigantischen Dampflok-Eisenbahn, welche darin ihre Runden dreht. Alviano hat diese Welt zwar geschaffen, er selbst aber betritt sie nicht, lange Zeit nicht, sondern begnügt sich damit, seine Pädophilie an Kindergeburtstagen auszuleben (ein Narr, der nie erwachsen wird).

Er ist fasziniert von der kindlichen Unschuld, der Reinheit, lebt jedoch seine sexuellen Bedürfnisse nicht aus, sondern sublimiert sie in einer Puppe, welche dem von ihm angebeteten Knaben aufs Har gleicht. Dieser Knabe nun führt mit stummer Präsenz durch die gesamte Inszenierung, ähnlich wie Tadzio in Thomas Manns Tod in Venedig. Selbst als Alviano glaubt, Carlotta könnte ihn von seiner Obsession erlösen, mit ihr könne er sexuelle Erfüllung finden, entpuppt sich die Malerin unter ihrem Overall als dieser Knabe. Ganz anders verhalten sich jedoch die übrigen Männer dieser Gesellschaft: Sie „profitieren“ von Alvianos Elysium, missbrauchen dort die Kinder. Dies zeigt Bieito zum Glück nicht real, aber in Bildern, die zutiefst verstören, ja geradezu zum Horror werden: In Videos werden Gesichter und Augen von Kindern auf die weissen Wände der Bühne projiziert, verzerren sich an der Decke, die traurigen Augen, die missbrauchten Gesichter lassen einen erschauern. Auch die Männer werden während den Vergewaltigungen gefilmt, man sieht jedoch nur ihre Gesichter mit den gierigen empathielosen Augen darin, welche unentwegt vor- und zurückgleiten. Das ist nicht mehr nur gespenstisch, das ist geradezu erschütternd und lässt einen kaum mehr los, genauso wie die ermordeten Kinder in den Wagen der Pfupf-pfupf Bahn.

Da ist er wieder, der stark moralisierende und seine Anklagen auf den Punkt bringende katalanische Regisseur, dessen Arbeit auch an diesem Abend nicht ganz unwidersprochen bleibt. Dass Bieito dieses Elysium als „Pädophilen-Paradies“ zeigt, macht im historischen Kontext des Stücks durchaus Sinn: Im ausgezeichnet fundiert verfassten Programmheft wird nämlich darauf hingewiesen, dass im Wien des Fin de siècle eine ganze Armee von Prostituierten unterwegs war (2% aller Frauen gingen dem Gewerbe nach). Aus Angst vor der grassierenden Syphilis nahmen sich die Männer immer jüngere Frauen, weil sie dachten, so der meist im Wahnsinn endenden Geschlechtskrankheit entgehen zu können. Alle wussten davon, niemand sprach darüber. Genau das zeigt Bieito auch – die Senatoren halten ihren Söhnen Augen und Münder zu.

So eine Inszenierung verlangt natürlich nach Darsteller, welche sich mit Haut und Haar, mit jeder Faser ihres Körpers in diese abgründigen Gestalten mit ihren psychopathischen Zügen zwischen Freud und Weininger verwandeln. Genau diese Sängerdarsteller hat die Komische Oper aufbieten können: Peter Hoare meistert mit seinem charaktervollen, biegsamen und ausdrucksstarken Tenor die schwierige Partie des Alviano zu tiefst beeindruckend. Als sein Gegenspieler Graf Vitelozzo Tamare ist Michael Nagy eine Idealbesetzung: Blendend aussehend als herablassender, menschenverachtender Macho, Potenzhengst und Womanizer, mit einer raumfüllenden, herrlich timbrierten Baritonstimme gesegnet dominiert er die Bühne in seiner Auseinandersetzung mit dem Herzog (ausgezeichnet: Joachim Goltz), seiner Verführung der Carlotta, seiner Verachtung gegenüber Alviano. Auch Ausrine Stundyte vollbringt in der Darstellung der von ihrem Vater (hervorragend Jens Larsen) missbrauchten Carlotta eine unter die Haut gehende Leistung, die Stimme klingt nicht wirklich schön, muss sie auch nicht in ihrer ganzen seelischen Zerrissenheit, die Ausrine Stundyte mit gewaltiger Expressivität gestaltet.

Sie ist mit jeder Faser ihres Körpers diese Frau, welche durch den Missbrauch übersexualisiert ist, eigentlich gar nicht mehr weiss wo sie steht, gefangen wie Alviano in unerfüllten Träumen. Deshalb ist das Bild am Ende des zweiten Aktes (im Atelier der Künstlerin Carlotta) gerade so stark: Carlotta malt Alviano nicht, sondern sticht mit dem Messer in wütender Raserei sein Profil in die Rückwand, gemeinsam brechen sie dann durch, scheinen in die – trügerische – Freiheit zu entfliehen, finden sich jedoch im genannten Elysium wieder – ausweglos, wie das unerbittlich sich drehende Riesenrad, welches zur Ouvertüre immer wieder in beängstigendem Licht projiziert wird (das herausragende Videodesign stammt von Sarah Derendinger). Zwar versucht Carlotta noch, sich durch den Mord an Tamare zu befreien, allein es hilft nicht. Und Alviano? Ihm bleibt nur der Weg in den Wahnsinn. Aber was wäre die ganze Handlung ohne diese Musik Schrekers, einer Musik, die mit ihrem gefährlich soghaften Rausch und der üppigen, überaus farbenreichen Instrumentierung alle in ihren Bann zu schlagen vermag.

Stefan Soltesz am Pult des exzellenten Orchesters der Komischen Oper Berlin ist ein geradezu genialer Anwalt dieser Partitur, er kann die ekstatischen Höhepunkte fulminant aufbauen, den zarten, intimen und auch fahlen Tönen und Passagen nachspüren, hat die Balance voll im Griff, so dass auf der Bühne niemand forcieren muss. Exzellent intoniert der stimmungsvolle Chor im Schlussbild mit seinen sirenenhaften Gesängen aus dem Off (Choristen der Komischen Oper Berlin und Vocalconsort Berlin, Einstudierung: David Cavelius). Herausragend besetzt sind die kleineren Partien, wobei man besonders herausstreichen darf, dass (im Gegensatz etwa zur Inszenierung in St.Gallen zu Beginn dieser Saison), die wichtigen Partien der Martuccia (Christiane Oertel), des Pedro (Christoph Späth) oder der drei Senatoren (Johannes Klügling, Tobias Müller Kopp, Tim Dietrich) nicht gestrichen waren. Aufhorchen liess Mirka Wagner als Mädchen im Elysium-Bild.

Fazit: Calixto Bieito macht es mit seiner psychoanalytischen Inszenierung dem Publikum sicher nicht leicht (warum sollte er auch …) – aufgewühlt und erschüttert verlässt man zwar die Oper, aber man ist auch irgendwie pervers süchtig nach der spätromantischen, mit den Rändern der Tonalität spielenden Tonsprache Franz Schrekers, dessen einst so erfolgreichen und dann in Vergessenheit geratenen Bühnenwerke nun zum Glück wieder zunehmend Beachtung finden.

Kaspar Sannemann 23.1.2018

Bilder siehe unten Erstbesprechung!