Berlin: „Robinson Crusoé“, Jacques Offenbach (zweite Besprechung)

Die Uraufführung der Opera comique „Robinson Crusoé“ in drei Akten und fünf Bildern auf einen Text von Eugene Cormon und Hector Crémieux fand am 23. November 1867 statt. Nach 32 Aufführungen wurde „Robinson Crusoe“ abgesetzt. Man sprach immerhin von einem Saisonerfolg.

In dem Werk hat sich Offenbach dem Klassiker unter den Abenteuer-Romanen zugewandt und folgte den Gattungskonventionen der Opéra comique, indem er auf Ironie und Satire weitgehend verzichtet. Sentimentalität, eigentlich nicht seine Sache, durfte plötzlich sein. Diese Opéra comique „muss als Kompromiss verstanden werden. Dem Komponisten war offensichtlich daran gelegen, zum einen niemanden zu brüskieren, zum anderen aber dennoch dem Werk einen eigenen Stil zu verleihen. In der Darstellung komplexer Themen, Stil und Satz Fakturen zeigt sich Offenbachs Bemühen, mit seinem zweiten Werk an der Salle Favart seinem Namen in der Pariser Theaterlandschaft das Renommee zu verschaffen, das ihm mit Barkouf versagt bleiben musste. Handelte es sich bei jenem Werk um den Versuch einer »Revolution“ der Opera-comique (die zum Scheitern verurteilt war), so besteht das Konzept von Robinson Crusoé in dem Bestreben nach Versöhnung. Auch wenn der Versuch, allen Herren zu dienen, nicht in Gänze gelingen konnte, fiel das Bemühen auf fruchtbaren Boden und sicherte dem Komponisten für die kommenden Jahre eine gute Zusammenarbeit mit dem Théatre de l’Opéra-Comique.“, so der Offenbachbiograph Ralf Olivier Schwarz.

Frank Harders-Wuthenow vom Verlag  Boosey & Hawkes hingegen, der die Offenbach Ausgabe Jean-Christophe Kecks verlegt, schreibt im Programmheft: „Der vermeintliche Spagat zwischen Opéra-bouffe und Grand Opéra, den die Zeitgenossen Offenbachs Robinson Crusoé vorgeworfen haben, liegt nicht im Unvermögen der Autoren, sich für einen Stil zu entscheiden, sondern in der Konzeption des Stückes, die wiederum eine Grundforderung des Offenbachschen Theaters einlöst: die gegenseitige Durchdringung von Ernst und Komik, wie sie Mozart im Konzept des »Dramma giocoso« formuliert hatte. In dieser Hinsicht hat Robinson Crusoé Modellcharakter – wir finden es in unterschiedlichen Nuancen aber genauso im Barkouf wie in Fantasio und in Hoffmanns Erzählungen umgesetzt. Die Kunst des »heiteren Dramas« besteht darin, die Extreme zu formulieren und in eine Balance zu bringen, und in dieser Hinsicht ist Robinson Crusoé tatsächlich ein absolutes Meisterwerk. Leider fehlt bis heute das Verständnis für die Offenbachsche Opéra comique als eigenständige Ausprägung des Genres.“ Nicht nur für die Opéra bouffe Offenbachs, auch für seine Opéra bouffe fehlt nach wie vor das rechte Verständnis. Mit Operette hat sie jedenfalls nichts zu tun, auch mit Spaß nicht wirklich. Auch wenn die Komische Oper das Stück folgendermaßen bewirbt:

© Ali Ghantschi

„Nach sechs Jahren Abenteuerfahrt weiß Robinson, dass nicht nur räuberische Piraten, sondern auch Inselbewohner mit kannibalistischen Tendenzen – Vegetarier, bis sie einen Missionar trafen – ihm den schönen Traum von der weiten Welt zur Hölle machen können. Zum Glück ist da Freitag. Er schwärmt nicht nur des Nachts gemeinsam mit Robinson für die Liebe, sondern ist außerdem besser gewappnet, um auf einer Insel am Orinoco zu überleben. Edwige, Toby und Suzanne sind Robinson aus Bristol nachgereist, wurden von Piraten verfolgt, sind auf der Insel gestrandet und erstmal ihrem alten Nachbarn aus Bristol in die Arme gelaufen. Dieser ist zum kannibalistischen Meisterkoch geworden, der frohen Mutes bereits in der tödlichen Brühe rührt … Mit rauschenden Meeressinfonien und wahnwitzigen Koloraturen wird Daniel Defoes Roman zu einer meisterhaften Offenbachiade. Ein semikonzertanter Spaß zur Weihnachtszeit, der Groß und Klein mundet!“

Von wegen Spaß. Nicht ohne Grund titelte Robert Pourvoyeur die Überschrift des von ihm gestalteten Programmhefts zur Neuinszenierung von Offenbachs Robinson Crusoé an der Pariser Opéra-Comique im Dezember 1986.: „Ein ernsthafterer Offenbach, als man erwartet hatte.“   Wie auch immer:  Den Reiz dieser Comique macht ihr Exotismus aus, für den der populäre Roman Defoes aus dem Jahr 1719 die Vorlage geliefert hat. Für ihr Bühnenstück bedienen sich Cormon und Crémieux des Sujets zur Nebeneinanderstellung zweier Pärchen nach Da-Ponteschem Muster: Neben einem ,ernsten‘ Paar der großbürgerlichen Gesellschaft, Robinson und seine Cousine Edwige, findet sich ein ,heiteres‘, die Kammerzofe Suzanne und der Sohn des Lebensmittelhändlers Toby. Das Moment des Exotismus manifestiert sich gleichzeitig am Schauplatz der Handlung wie in der Figur des Vendredi. Auf diese Weise ergeben sich zwei Kontraste, die Offenbach musikalisch in Szene zu setzen versteht: Exotik versus Zivilisation sowie ernstes Genre „versus heiterer Komödie.  Es geht allerdings weniger um den kolonialistischen Blick von hochzivilisierten Europäern auf die primitiven Wilden, sondern eher um die Bedingungen und Strategien menschlichen Zusammenlebens. Das Kernthema des Stücks ist die Erotik.

Das Werk dauerte bei der Uraufführung insgesamt mehr als 4 Stunden! An der Komischen Oper Berlin wird das Stück auf familienfreundliche 90 Minuten gekürzt, wobei Regisseur Felix Seiler eine zusätzliche Erzählerin eingearbeitet hat – Offenbachs lang verschollen geglaubte Schwester Jacqueline , die augenzwinkernd durch die Handlung führt. Die Partie ist rein fiktiv,  sie tritt im Kostüm und in der Maske Jacques Offenbachs auf. Die Ähnlichkeit ist verblüffend: Stirnglatze, Backenbart, Kneifer, Pelzkragen, sie sieht aus wie ihr Bruder.  Sie seien eineiige Zwillinge gewesen  und sie sei nicht gealtert, erklärt sie dem Publikum. Jacqueline rafft die Handlung, erzählt sie mit Witz und ersetzt die fehlenden Musiknummern und Dialoge durch Plauderei und Albereien. Dabei gestattet sie sich (komödienstadlreif dargestellt von Andreja Schneider, bekannt als Crossdresserin der Geschwister Pfister) manche Anspielung auf gegenwärtige Zeitumstände. So beklagt sie die Berliner Sparzwänge gerade in Hinsicht auf die Komische Oper. Das klingt manchmal fast zynisch. „So könnte es bald immer aussehen“. Nicht zuletzt diesen Berliner Sparzwängen sei das fehlende Bühnenbild dieses „Robinson Crusoé“ zu verdanken.

© Ali Ghantschi

Tatsächlich sieht man bedauerlicherweise nichts als Stühle für das Orchester, das auf der leeren, schwarzen Bühne platznimmt und für die Gesangssolisten. Im Hintergrund ein Gazevorhang, der wenig phantasievoll beleuchtet wird. Kostümiertes Konzert wäre die angemessene Bezeichnung für diese Sparfassung (eines Stücks, das als großes exotisches Ausstattungsstück gedacht und auch uraufgeführt wurde). Die Solisten tragen historische (ironisch überzeichnete) Biedermeierkostüme. Kathrin Kath-Bösl hat die spitzweghaften Kostüme durchaus als Anspielung an Offenbachs Kritik an biedermeierlicher Geisteshaltung gestaltet.

Gegen Ende verkündet Jacqueline dem Publikum, dem sie sich öfter zuwendet, sie werde sich nach Köln wenden, an die Jacques Offenbach Gesellschaft, vielleicht habe die eine bezahlte Stelle für sie. An anderer Stelle, bei der Kochtopfnummer, verlässt sie die Bühne mit der lakonischen Bemerkung, sie werde jetzt lieber in die Kantine gehen.

Die großmäulige Ankündigung rauschender Meeressinfonien ist eine rechte Übertreibung der Komischen Oper. Gerade mal eine bekommt man in der Komischen Oper (im Schillertheater) zu hören. Überhaupt darf die Aufführung musikalisch allenfalls als „the best of Robinson Crusoé“ verstanden werden. Eine bedauerliche Sparfassung. Es sind vor allem die schönsten Quintette, Arien, Chöre und Finali, die dargeboten werden, die Auswahl ist willkürlich und dramaturgisch fragwürdig. Allein der erste Akt dauerte 45 Minuten, die restliche verbleibende Zeit wurden auf die Akte zwei und drei aufgeteilt.

Allerdings hat der junge französische Dirigent Adrien Perruchon, er ist seit 2021 Musikdirektor des Orchestre Lamoureux und Schüler von Myung-Whun Chung, das Werk mit mitreisendem Schwung, rhythmischer Verve und pikanter Gestaltungskraft dirigiert, ein Offenbach vom Allerfeinsten. Dieser Dirigent hat ein Händchen für den oft verharmlosten deutschen Pariser. Sein Dirigat ist ein überwältigendes Plädoyer für einen ernstzunehmenden, ungemein phantasievollen Komponisten. Man hätte gern mehr von Diesem Werk gehört!  Es wird übrigens in der Fassung von Jean-Christophe Keck und in der neuen deutschen Textfassung on Jean Abel gespielt, allerdings nur zweimal, schade.

Fabelhaft waren die Chorsolisten der Komischen Oper. Fabelhaft waren auch die Sänger: Agustin Gómez singt einen überzeugenden Strahletenor von Robinson, Miriam Kutrowatz singt seine Geliebte Edwige mit schönem Sopran und brillanten Koloraturen à la Lucia di Lammermoor, Sarah Defrise (Suzann)und Andrew Dickinson (Toby) singen ein bezauberndes heiteres Pärchen, auch der Freitag (Hosenrolle) von Virginie Verrez (Mezzosopran) überzeugt immerhin durch Gesangskultur, weniger durch Darstellung. Alle Sänger sangen ausnahmsweise einmal wortvertständlich. Nur die Schauspielerin Andreja Schneider verstand man trotz Mikroportverstärkung nicht immer optimal, zumal sie oft über die Musik sprach. Dennoch war das ein außerordentlich erfreulicher Abend und eine bedeutende Ausgrabung, die trotz ihrer ordentlich abgespeckten Fassung vom Publikum, das das Werk zum größten Teil wohl erstmals erlebte, heftig gefeiert wurde.

Dieter David Scholz, 22. Dezember 2024


Robinson Crusoé
Opéra-comique in drei Akten [1867] von Jacques Offenbach
Libretto von Eugène Cormon und Hector-Jonathan Crémieux
Kritische Ausgabe von Jean-Christophe Keck (OEK)
Deutsche Textfassung von Jean Abel.

Komische Oper Berlin

Premiere semikonzertant am 22. Dezember 2024
Berliner Erstaufführung

Musikalische Leitung: Adrien Perruchon
Orchester der Komischen Oper Berlin

Erste Besprechung