Graz: Orfeo ed Euridice

Graz, Helmut-List-Halle 7. Juli 2016
Konzertantes Figurentheater

Geschickt nutzt die Styriarte Vorhandenes und schafft durch Kooperationen Neues!

Im Jahre 2014 war der 300.Geburtstag von Christoph Willibald Gluck zu feiern – damals beendete Michael Hofstetter in der Helmut-List-Halle den ersten Konzertzyklus der von ihm aus dem recreation-Großes-Orchester-Graz heraus gebildeten Originalklang-Formation recreationBAROCK mit einer konzertanten Aufführung von Glucks "Orfeo ed Euridice".

Styriarte-Intendant Mathis Huber (auch Intendant der recreation-Ensembles!) machte daraus in der Styriarte 2016 einen effektvollen Programmpunkt, indem er die vorhandene Produktion in der identen musikalischen Besetzung auffrischte und sie mit den Puppen des Kabinetttheater Wien in einer Kooperation der Internationalen Gluck-Opern-Festspiele zu einer Szenischen Produktion als Figurentheater weiterentwickelte. Und die Dramaturgie findet dann sogar auch noch eine Begründung, was Glucks Azione teatrale mit dem diesjährigen Festivalmotto Viva la libertà zu tun hat: Selbst in einem höfischen Spektakel wie „Orfeo ed Euridice“ stellt sich die Frage nach der Freiheit des Menschen.

Das ist wahrhaft geschicktes Musikmanagement!

Was kann man sich nun unter einer Szenischen Produktion als Figurentheater vorstellen??

Zu Recht wies Styriarte-Dramaturg Karl Böhmer in seiner Einführung darauf hin, dass es ab der Barock-Zeit durchaus üblich war, Opern auch als Puppentheater aufzuführen. Dies waren allerdings meist Marionetten – so gab es z.B. etwa auf Schloss Eszterháza ein eigenes Marionettentheater, für das Joseph Haydn Stücke schrieb. Auch im Schloss Schönbrunn gab es ein Marionettentheater, das z.B. Glucks Alceste als Parodie aufführte. Wer sich für die Geschichte dieser Theaterform interessiert, dem sei als Einführung der Beitrag im Österreichischen Musiklexikon empfohlen, wo als aktueller Überbegriff für das Puppen- und Marionettentheater der Begriff Figurentheater verwendet wird.

Für die styriarte-Produktion hatte man für ein derartiges Figurentheater zwei grundsätzliche Probleme zu lösen:

– Figurentheater ist eine kleingliedrige, eine filigrane Kunstform. Wie kann das in einem rund 1000 Plätze fassenden Raum ausreihend sichtbar gemacht werden?

– Wie kann die Gratwanderung zwischen Parodie, Kindertheater und sinnvoller optischer Belebung des Gluck’schen Meisterwerks bewältigt werden?

Ich denke, es ist ein vertretbarer Kompromiss gelungen.

Die Sänger und Instrumentalisten sind das zentrale Element des Abends. Im Vordergrund ist das Orchester postiert, dahinter steht links und rechts der Chor in zwei Blöcken, Orpheus steht halblinks an seinem Pult – in der Mitte sind in eine schwarze Wand drei kleine Guckkastenbühnen eingebaut, auf denen die unterschiedlichsten Gestalten – von unten durch die Puppenspieler bewegt – erscheinen. Ich saß im ersten Drittel des Zuschauerraums – für mich waren die kleinen Figuren gerade noch erkennbar. Während der Ouvertüre wird auf den kleinen Guckkastenbühnen ein barockes Fest samt neugierigen Zuschauern gezeigt. Im Laufe des Stücks sind dann viele detailreiche Figurenaktivitäten zu registrieren – manche nimmt man eher mit Befremden zur Kenntnis – etwa zu Beginn das Rotkreuz-Auto beim Tod Eurydikes oder den Schattenriss eines Sisyphos-Männchens, das unermüdlich einen Stein nach oben schiebt, manche nimmt man eher erheitert zur Kenntnis – etwa das Teuferl samt Schlangenungetüm und die martialischen Furien in der Unterwelt oder die Tiervielfalt in der paradiesischen Landschaft des Elysiums oder die Puttenfigur als Amor. Ob diese Figuren-Illustration, die teilweise auch bewusst kontrapunktisch eingesetzt wird, dem Gluck-Werk eine zusätzliche Dimension eröffnet, bleibt offen – für mich war es eher ein zwar kunstfertiges, aber doch eher aufgepfropftes Unterfangen, das manches Mal das Musikgeschehen nicht nur nicht bereicherte oder ergänzte, sondern eher davon ablenkte.

Musikalisch steht natürlich der Interpret des Orfeo im Mittelpunkt. Man hatte in Graz die sogenannte Parma-Fassung von 1769 gewählt, die sieben Jahre nach der Uraufführung für die Hochzeit einer Tochter von Maria Theresia in Parma entstanden war. Die entscheidende Änderung, die Gluck vornehmen musste, war die Transposition der Titelrolle. Während der Orfeo in Wien von dem damaligen Star-Altkastraten Gaetano Guadagni gesungen wurde, übernahm diese Partie in Parma der ebenso bekannte Soprankastrat Giuseppe Millico. Dessen höhere Stimmlage erforderte, dass die Arien und Rezitative des Orfeo nach oben transponiert wurden: Statt eines Ambitus von a bis e‘‘ in der Wiener Fassung bewegt sich die Stimme in der Parma-Fassung zwischen d‘ und a‘‘. Durch die Transponierung steht beispielsweise Orfeos Arie „Che farò“ in der Sopranfassung in Es-Dur statt in C-Dur – so nachzulesen im Magazin des Bärenreiter-Verlags.

Diese Orfeo-Fassung gibt es erst seit etwa 2 Jahren im Druck. In der Grazer Aufführung des Jahres 2014 war diese Sopran-Fassung des Werkes also 245 Jahre nach der Uraufführung zum ersten Mal in Österreich zu hören. Der in Graz schon mehrfach aufgetretene und überaus beliebte Countertenor Valer Sabadus hat auch diesmal die exponierte Sopran-Partie hervorragend bewältigt. Trotz aller Kunstfertigkeit des Gesangs vermittelte Sabadus natürliche Betroffenheit und Identifikation mit der Orpheus-Figur. In ihrer jugendlich-zarten, prononciert weiblichen Stimmfärbung setzte sich die Eurydike von Tatjana Miyus effektvoll vom Sopran-Orpheus ab. Und wenn die beiden dann selbst in der zerklüfteten Felsenhöhle erscheinen, fein aufeinander abgestimmt ihre Duett-Szene singen und ihre Papp-Figuren (siehe das Bild zu Beginn des Beitrags) ersetzen, dann entsteht wirkungsvolles Musiktheater.

Das 25-köpfige Vocalforum Graz (Einstudierung: Franz M. Herzog) zählt zu den renommierten österreichischen Kammerchören und sang sehr konzentriert und durchsichtig schlank. Das passte sehr gut zur kammermusikalischen Interpretation des Originalklang-Orchesters, wenn man sich auch speziell bei den Furienchören etwas mehr Klangvolumen gewünscht hätte. Das Barockorchester unter der Leitung von Michael Hofstetter spielte sehr plastisch mit schönen Soli (etwa Flöten und Oboen) und da gab es ein sehr schönes und geradezu dramaturgisch passendes Detail: Die slowenische Harfenistin Tanja Vogrin ist auch ausgebildete Sängerin – sie erhebt sich von ihrem Orchesterplatz und singt die Partie des Amor mit sicherer, sich dunkel von den anderen beiden Sopranen abhebender Stimme – über ihr am Rande der Guckkastenbühne sitzt die Barock-Amorette – ein wirkungsvolles und musikdramatisch sinnvolles Bild!

Der Schluss weiß dann mit noch einem weiteren einprägsamen Bild zu erfreuen:

Während die Wiedervereinten und der Chor Amor und die Schönheit preisen Trionfi Amore,
e il mondo intero serva all’impero della beltà
wird die Amorettenputte in einer Prozession geistlicher Würdenträger über die Bühne getragen – ein versöhnlicher und heiterer Abschluss – wahrhaft ein lieto fine!

Der volle Saal spendete nach der ohne Pause durchgehenden 80-Minuten-Fassung (ohne Ballett) reichen Beifall, in den natürlich auch die Puppenspieler des Kabinetttheaters (Leitung: Julia Reichert, Regie: Thomas Reichert) einbezogen wurden. Um zum Beginn meines Berichts zurückzukommen: die styriarte-Intendanz hat uns durch geschicktes Zusammenfügen verschiedener Fäden einen musikalisch und auch optisch anregenden Abend beschert.

Hermann Becke, 8.7.2016

Szenenfotos: Styriarte © Werner Kmetitsch

Hinweise:

– Am 9. 7. 2016 gibt es noch eine weitere Aufführung

– Am 26. 7. 2016 gastiert die Produktion im barocken Markgrafentheater Erlangen

– Und da gerade vor 2 Tagen die wunderbare Elisabeth Kulman in Graz bei der styriarte zu Gast war (siehe unten), sei als Kontrast zu der heutigen Aufführung an ihren herausragenden Orfeo (in der Liszt’schen Orchesterfassung) vor zwei Jahren in Raiding erinnert