Lehár-Premiere mit Überraschung
Besuchte Premiere am 5.12.2021
Der Vorhang bleibt geschlossen, fünf, zehn Minuten vergehen, und dann geht er endlich hoch. Dahinter auf dem Hochzeitsnachts- und Sterbebett ihres, hm, kurzlebigen Ehemanns sitzt die frischgewordene Witwe den Tränen nahe. Hinter ihr das ganze Ensemble. An die Rampe tritt der Theaterintendant Georg Heckel und verkündet: Eine Person im Hause wurde positiv auf Covid19 getestet, unter diesem Umstand kann die Premiere nicht stattfinden. Entschuldigung. Dann brach ein kräftiger Schlussapplaus aus, bevor noch etwas angefangen hat. Das war am Freitag den 3. Dezember. Zwei Tage später, am Sonntag den 5. Dezember: Der Vorhang geht hoch, auf dem, Sie wissen schon, Bett, sitzt Emily Dorn, traurig und nachdenklich, noch voller Gedanken über Verlust und Gewinn, und – vielleicht – froh bereits, weil sie bald lustig sein wird, was sie auch zu singen hat. Ein Teil des Publikums mit den Sonntagskarten weiß gar nicht, dass es in der Premiere sitzt, erst nach dem Vorstellungsschluss, nach dem kurzen Statement des Intendanten geht ein Raunen durchs Publikum: Es war die Premiere!…
Und gleich stellt sich die Frage: Wie liebestötend muss der erste Musikentwurf von Richard Heuberger gewesen sein, den die Librettisten Léon und Stein zuerst als Komponisten der lustigen Witwe gedacht haben? Sie fanden Heubergers Entwurf nicht erotisch genug. Erst Lehárs Musik muss wohl ihre Erwartungen der Librettisten erfüllt haben. Meine nicht. Hye Ryung Lee führte das Orchester perfekt vorsichtig. Die Dynamik, Artikulation, Nuance der Rhythmik, die mehr aus der Partitur als aus dem Konglomerat der Emotionen von „pontevedrinischem“ Temperament, Wiener Blut und Pariser (Nacht)Leben, und zwar im steten Wechsel auszulesen wären, kamen nicht deutlich durch. Zu brav die Interpretation, zu bedacht die korrekte Notenwiedergabe. Was blieb, war ein Hauch von Plüscherotik des Wiener Cafés. Das Detmolder Orchester hat nicht einmal gezeigt, dass es auch Leidenschaften spielen kann. Das Publikum muss wohl ähnlich empfunden haben, im Saal herrschte eine sonntägliche Ruhe vor Kaffee-Kuchen Stunde, bis der Weibermarsch, das „Ja, das Studium der Weiber ist schwer“, kam. Da erwachte der Saal. Erst einzeln und vorsichtig, dann aber, als die Männer die Hosen runter ließen, brach ein stürmisches rhythmisches Geklatsche aus. Ich befürchte, dass dies nicht diese Art von Erotik war, die Lehár, Léon und Stein im Sinn hatten.
Diese hat der Regisseur Otto Pichler retten wollen. Es scheint, dass er die schwache Erotik der Musikinterpretation mit szenischen Einfällen ausgleichen wollte. Eine anspruchsvolle Aufgabe. Die Groteske, Erotikdarstellungen und den Humor von 1900 ins 2021 so umzusetzen, dass es auch heute als Groteske, Erotik & Witz wahrgenommen wird, ist nicht leicht. Schließlich wird auch hier eine reale, immer wiederkehrende Geschichte erzählt: Er liebt sie, sie heiratet einen anderen, doch sie liebt noch einen anderen, der noch eine andere liebt, die ihn mit einem anderen betrügt, der einen anderen bedroht, weil er mit seiner Frau, die ihn mit dem anderen… usw, usw. Das ist die Realität von vor 120 Jahren genauso wie heute, jedes Amtsgericht kann das bestätigen (he he, Datenschutz). Es geht eigentlich nur darum, in welcher Form dies öffentlich wird, in einer Pressenotiz, oder in einer Operette zum Beispiel. Und hier soll es unterhaltsam, titelmäßig lustig sein. Und erotisch. Aber wie?
Otto Pichlers Nähe zu Barrie Kosky weckte in mir erst den Verdacht, die Premierenabsage sei ein Kunstgriff, dann aber die Erwartung einer Inszenierung, die das alte Original – ohne es zu zerstören – verzerrt, eine groteske, ironische Sicht der Bühne zeigt, oder wenigstens suggeriert. Und die von Urhebern gewollte Erotik auch erotisch darstellt. 120 Jahre danach hat das Theater schier unbegrenzte Mittel und Akzeptanz, alles in die Theatersprache umzusetzen. Ein unter der Gangway onanierender Danilo wirkt aber hier wie ein Hilferuf nach einem besonderen szenischen Einfallsreichtum. Schwach. Und inkonsequent. Danilo geht schließlich – und daraus macht er keinen Hehl – zu Maxim, wo er dort ja auch intim, aber in einer guten Damengesellschaft ist.
Emily Dorn (als Hanna Glawari) und Todd Boyce (als Graf Danilo) singen und spielen ihre Rolle mit einer nonchalanten Sicherheit, manchmal mit einer so natürlichen Selbstverständlichkeit, dass der Eindruck entsteht, man sei als Zuschauer auch mitten im Geschehen an der anderen Seite der Rampe, im Maxim oder anderswo, wo die Menschen drumherum sich unterhalten, tanzen, streiten, trinken und flirten, gehen und kommen, wie in einem anderen beliebigen Lokal. Und dabei gibt es nichts Operettenhaftes – ausgenommen den weißen Schal um den Hals des Grafen. Das andere Paar, Penelope Kendros (Valencienne) und Stephen Chambers (Camille de Rosillon) gestalten ihre Rolle mit einer vorsichtigen Selbstironie. In einer brenzligen Lage bleiben sie immer noch sympathisch albern – da scheint die Operette spürbar durch, ähnlich wie im Spiel von Andreas Jören (Baron Mirko Zeta) und Florian Zanger (Vicomte Cascada).
Kurzum: Das gesamte Ensemble mit seiner Professionalität und gründlichen Vorbereitung sorgt für eine gute Operettenproduktion – vergessen Sie die Einwände. Eins dürfen Sie aber auf keinen Fall vergessen, wenn Sie eine der Vorstellungen besuchen wollen: den Impfpass und eine Nasen-Mund-Schutz Maske.
Jan Ochalski, 11.12.2021
Fotos A.T. Schaefer / Landestheater Detmold