Detmold: „Jesus Christ Superstar“

Ein Versuch

Eine der Reaktionen nach der Uraufführung 1971 waren Proteste von religiösen Fanatikern. Wahrscheinlich erwarteten sie Figuren mit andächtig gefalteten Händen und Heiligenscheinen über den Köpfen. Stattdessen sahen sie junge Menschen, die streiten, lieben, diskutieren, trinken, also Menschen wie du und ich, fernab von dehumanisierter Verklärung für Zwecke der mystischen Religionsausübung. Frauen sind Frauen und keineswegs heilige geschlechtslose Wesen. Sie können leidenschaftlich, emotional sein, empfinden Freude, Angst, Verlangen, Begehren, lieben ihre Männer wie Männer ihre Frauen lieben, die in sozialen Verhältnissen leben, frei von anerzogenen, indoktrinierten Verhaltens- und Denkmustern. Die Proteste richteten sich paradoxerweise gegen die verkündete Botschaft: Gott wurde Mensch, Mann wie Frau.

Apostel im Stein gemeißelt sind es eher nicht, sie sind das Ergebnis der Legendenbildung. Verklärung fällt zu Lasten der ohnehin kaum rekonstruierbaren Geschichte.

Die Rolle des Judas passte auch nicht in das gewohnte, erwartete Bild. Sein Verrat, seine Schuld am Tod von Jesus ist im Musical – wie auch in spärlichen Überlieferungen – nicht eindeutig. Er ist ein Mensch voller Zweifel, er verrät aus politischen Überlegungen, wenn der Jünger Petrus aus Feigheit leugnet, aus persönlicher Berechnung. Wer ist hier der Verräter? Im Gegensatz zum visionären Jesus ist Judas ein Realpolitiker, der versucht abzuwägen, welche Position sein eigenes und das Überleben seines Volkes sichert. Heute wieder ein aktuelles Thema: Das Dilemma der europäischen Ukrainer- und Russlandpolitik. Über dem Theatergiebel weht die ukrainische blau-gelbe Flagge. Im Theater gibt es die Premiere von Jesus Christ Superstar.

Die Inszenierung ist zerstückelt in wenig zusammenhängende Aktionen, die einzelnen Fragmente sind zwar Teile derselben Geschichte, sie sind aber nicht homogen: mal kommt ein Auftritt mit einem Song wie auf leerer Konzertbühne, mal Gruppen mit wenig originaler Choreographie, die Bewegung erstarrt mal zu einem Gruppenbild wie die am Kreuz versammelte Menschenmenge. Der Regisseur Götz Hellriegel (Inszenierung und Choreografie) bedient sich in einigen wenigen Szenen der Ikonographie von barocken Darstellungen der Kreuzigung; mit einem Triptychon mit dem zentralen Kreuzigungsbild beginnt die Vorstellung. Unter dem Triptychon irren jugendliche Museumsbesucher wahllos herum, es sollen Museumsbesucher sein.

Dass die Inszenierung aus zerstückelten Szenen gebaut wird, verdeutlichen noch mal unnötige, inkonsequente Pausen: Eine Choreographie, ein Song, ein Chor und dazwischen eine Leere, kein Bühnengeschehen, keine Musik. Ein handwerklicher Fehler. Vermutlich wurden diese Pausen für zu erwarteten Applaus berechnet. Der aber kommt nicht.

Erst zum Schluß ist er da, minutenlange stehende Ovationen, weil alle, Jesus, Judas, Maria, Hohepriester, Jünger und Volk wieder lebend und lächelnd am Bühnenrand stehen? So wird der Schlussapplaus ungewollt zur dramaturgischen Höhe der Inszenierung.

Zugegeben, das Original von Andrew Lloyd Webber und Tim Rice besteht aus quasi einzelnen Szenen, Songs, Choreographien, die einer Idee klar folgen: aus dem Leid kommt der Sieg. Aus dem Erniedrigten wird ein Star. Ein Superstar. Durch eine konsequente Inszenierung wird ein hoher Level der ununterbrochenen Spannung gehalten. In Detmold verflüchtigt sie sich indessen in dem nicht klar zueinander angepassten Mosaik von der Atmosphäre eines Konzertauftritts, Schultheaters, Friedrichstadtpalast, Picknick an Fridays for Future. Bei einigen Chorstücken befürchtete ich, dass gleich angezündete Feuerzeuge über den Köpfen geschwenkt würden. Es gibt von allem etwas, gute Auftritte und Ansätze von interessanten Einfällen, doch ohne dramaturgische Einheit, ohne klar geführte Erzählung und ohne das nötige Tempo.

Vielleicht war die Regieabsicht, damit das junge Publikum anzusprechen. Was noch vor 50 Jahren begeisterte – und schockierte -, zieht aber heute nicht mehr. Auch der Griff mit der Ballettgruppe zieht nicht. Mal sind die Tänzer Museumsbesuche, mal feiernde raufende Jugendliche auf einer Treppe im Freien – die ganze Bühne ist eine riesige Treppe (Bühnenbild: Jule Dohrn-van Rossum). Wieder mal und völlig unglaubwürdig sind sie Soldaten der Hohepriester mit Plastikpistolen, dann wieder nageln sie Jesus übertrieben naturalistisch mit übergroßen Hämmern ans Kreuz. Gewiss, das Theater arbeitet mit Illusionen, diese aber muss man glaubhaft erzeugen.

Maria Magdalena (Mercedesz Csampai), eine der tragenden Personen der Handlung, wird zu einer Nebenfigur geführt. Ja, Judas (Hannes Staffler) ist schuld, sein Verrat ist die Herabsetzung einer Frau: Jesus habe etwas Besseres verdient. Er, der sanfte Tobias Bieri, lässt dies geschehen, und sie nimmt das hin, hält sich in ihren Partien vorsichtig zurück. Wo ist die Frau, voller Leidenschaft, Liebe, Verzweiflung, Angst?

Kurzum: Ein Versuch, dem Glanz des welterfolgreichen Musicals nachzukommen, bleibt nur ein Versuch.

Jan Ochalski, 28.4.22

Bilder (c) Theater Detmold