Linz: „Death in Venice“

Konsequent, aber zu einengend inszeniert

Linz hat keine große Erfahrung mit Benjamin Brittens musikdramatischen Werken. Da gab es bisher nur 1958 die Bettleroper und dann 2014 in der (nur 270 Plätze fassenden) Blackbox The Turn of the Screw. Seit der Spielzeit 2016/17 ist Hermann Schneider Intendant des prächtigen neuen Linzer Musiktheaters – und er hat erstmals Benjamin Brittens Death in Venice in Linz auf die große Bühne gebracht. Es ist dies eine Inszenierung, die Hermann Schneider selbst unmittelbar vor Beginn seines Linzer Wirkens im Jänner 2016 für Nizza entwickelt hatte. Diese Inszenierung wird weiter nach Bonn wandern und ist nun für acht Aufführungen in Linz zu sehen – aber nicht nur das szenische leading team ist gleich wie an der Opéra de Nice, auch der Dirigent und zwei Hauptdarsteller waren schon in Nizza dabei.

Leicht hat es Benjamin Britten (1913-1976) ja seinem Publikum nicht gemacht: “Tod in Venedig” nach der Novelle von Thomas Mann ist Brittens letztes Bühnenwerk und wird gerne als “sperrig und nicht leicht zugänglich” beschrieben. Wohl deshalb wird es auf europäischen Bühnen bis heute nur wenig gespielt: Operabase weist seit dem Jahre 2000 nur 38 Aufführungen in 5 Städten aus.

Hermann Schneider und sein Team haben ein konsequentes und im Programmheft schlüssig begründetes Konzept entwickelt: Das Stück spielt ausschließlich in der Arbeitsbibliothek des Schriftstellers Gustav Aschenbach, dessen Figur in der Maske deutlich Thomas Mann nachempfunden ist – und dessen Schreibtisch ein minutiöses Abbild des Schreibtisches von Thomas Mann ist. Das gesamte Stück ist als Sterbeprozess des Dichters angelegt, wobei sich die Dramaturgie auf das Phasenmodell des Sterbens beruft, das die weltberühmte Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross gerade zu jener Zeit entwickelt hatte, in der Benjamin Britten seine Oper schrieb.

Die Arbeitsbibliothek weitet sich im Laufe des Abends, es hebt sich die Decke des Raums, Licht strömt herein, es bildet sich im Boden ein Spalt, den man als Kanal deuten kann und die Wände werden brüchig. Die Venedig-Erlebnisse des Dichters spielen sich offenbar nur in seinem Kopf als Lebenserinnerungen oder Lebenswünsche ab, die im Sterbeprozess nochmals lebendig werden, bunte Gestalten kommen in das sich auflösende Arbeitszimmer. Aschenbach stirbt bereits zu Beginn – und dieser Tod wiederholt sich immer wieder von Szene zu Szene.

Wenn man dieses Konzept vor der Aufführung in der klugen Stückeinführung durch den Dramaturgen Christoph Blitt vermittelt bekommt und dann auch im Programmheft nachliest, dann überzeugt das zunächst durchaus. Aber wenn man es dann auf der Bühne sieht, dann muss man doch registrieren, dass es zwar eine geistvoll ausgedachte Idee ist, der aber in der praktischen Umsetzung die gerade bei diesem Stück unverzichtbare Mehrdeutigkeit und Doppelbödigkeit und vor allem die theatralische Kraft fehlt. Der große Bühnenraum des Linzer Musiktheaters wird durch eine Guckkastenbühne eingeengt, die Figuren haben gerade ausreichend Platz um aufzutreten, aber die Weite der traumhaften Illusion fehlt. Britten und seine Librettistin haben eigentlich 17 verschiedene Schauplätze vorgesehen – diese fallen in diesem Konzept völlig weg, dadurch leidet die Verständlichkeit des Handlungsfortganges. Ein konkretes Beispiel: die Auseinandersetzung zwischen den Göttern Dionysos und Apollo, die Aschenbach im Traum erlebt, ist optisch überhaupt nicht gelöst. Apollo tritt in der Maske Aschenbachs auf – man versteht, was gemeint ist: das Apollinische ist ebenso ein Teil des Dichters wie das Dionysische. Das ist gescheit ausgedacht, aber nicht bühnenwirksam und das Publikum ist zunächst verwirrt, weil man die Figuren ganz einfach nicht auseinanderhalten und die Verdoppelung der Traumsituation nicht erkennbar ist

Die zahlreichen Nebenfiguren wirken nie mysteriös-skurril, sondern treten immer eher bieder-gegenständlich auf und auch wieder ab – da entwickelt sich nie jene irreal-traumhafte Stimmung, die im Stück und in der Musik angelegt ist. Auch Aschenbach und sein diabolischer Gegenspieler, der sich vom Reisenden in vielfältige Figuren bis zum Dionysos wandelt, sind immer eher eindimensionale Gestalten und können szenisch das Doppelbödige des Stücks nicht glaubhaft vermitteln. Und noch ein Einwand: der polnische Junge Tadzio, auf den sich Aschenbachs Begehren richtet, sollte wohl im pubertären Alter sein – am Übergang zwischen Kind und jungem Mann. In dieser Produktion ist die Rolle mit einem – ohne Frage exzellenten – Tanzsolisten besetzt. Jonatan Salgado Romero ist seit 10 Jahren in Linz engagiert – er ist ein viriler junger Mann, aber eben kein Knabe. Das gilt übrigens auch für seine vier Freunde, alle so wie er Mitglieder des Tanzensembles des Landestheater – vielleicht wäre es rollendeckender gewesen, hätte man Knaben der Tanzakademie eingesetzt.

Über die musikalische Seite der Aufführung ist hingegen nur Positives zu berichten:

Hans Schöpflin ist ein überaus erfahrener Interpret der zentralen Rolle des Aschenbach. Schon vor 10 Jahren war er in dieser Rolle in Barcelona erfolgreich. Seine klare Stimme ist für die Partie ideal geeignet – er gestaltet die Rolle musikalisch hervorragend. Schöpflin war ebenso wie der Interpret des Apollo bereits bei der Premiere in Nizza dabei. Apollo ist der englische Countertenor James Laing – auch er ist ein optimaler Vertreter seines Fachs. Britten und seine Librettistin Myfanwy Piper haben eine sehr wirkungsvolle Lösung entwickelt, um ein gewisses dramturgisches Gegengewicht zu der das ganze Stück beherrschenden Figur von Aschenbach zu schaffen: sie haben die vielen diabolisch-mehrdeutigen Gestalten, denen Aschenbach in Manns Erzählung begegnet, ein- und demselben Sänger anvertraut. Der beliebte Linzer Hausbariton Martin Achrainer – gerade erst als Eugen Onegin erfolgreich – sang seine Partie mit gebührender stimmlicher Charakterisierungskunst.

In den über zwanzig Kleinstpartien bewährten sich Ensemble- und Chormitglieder. Der Chor (Einstudierung: Csaba Grünfelder) macht seine Sache sehr gut und ambitioniert. Der international bewährte Dirigent Roland Böer kann durchaus als ein Spezialist für Benjamin Britten bezeichnet werden. Mit dem sehr gut disponierten Bruckner-Orchester-Linz sorgte er nicht nur für große Präzision, sondern vor allem für einen sehr schönen und warm-ausgewogenen Orchesterklang. Ich gestehe allerdings, ich hätte mir ein wenig mehr Schärfe und Kantigkeit bei der Wiedergabe der komplexen Britten-Partitur gewünscht.

Ich komme zum Beginn meines Berichtes zurück: Linz hatte bisher wenig Erfahrung mit dem musikdramatischen Werk von Benjamin Britten. Dies merkt man auch an den Publikumsreaktionen: wohl aufgrund der durchgehend positiven Kritiken über die Premiere war bei der zweiten Aufführung der Neuproduktion das Linzer Musiktheater sehr gut besucht – allerdings verließ ein großer Teil des Publikums in der Pause die Vorstellung – so wie dies übrigens laut Presseberichten bereits bei den Premieren in Linz und auch in Nizza geschehen war. Schade – denn der 2.Teil war insgesamt spannender in Szene gesetzt als der Anfang und die großartige musikalische Wiedergabe lohnt unbedingt den Besuch

Und noch eine persönliche Anmerkung:

Die Beurteilung von Opernaufführungen beruht zu einem wesentlichen Teil auf Vergleichen. Ich konnte nicht nur die österreichische Erstaufführung von Brittens Tod in Venedig im Jahre 1974 in Graz besuchen, sondern im Vorjahr auch über die Stuttgarter Neuinszenierung berichten (Wer Interesse hat, kann hier meinen Opernfreund-Bericht vom 7. 5. 2017 nachlesen). Aus diesen Erfahrungen und nach dem Besuch vieler Britten-Aufführungen in Wien und Graz komme ich diesmal speziell bei der szenischen Umsetzung zu einer anderen Einschätzung als die anderen Premieren-Berichte.

Aber wie auch immer: die Linzer Produktion sollte besucht werden – zu selten hat man die Chance, Brittens letzte Oper zu erleben!

Hermann Becke, 23.5.2018

Aufführungsfotos: Landestheater Linz, © Sakher Almonem

Hinweise:


Noch 6 weitere Vorstellungen bis Anfang Juli


Das ausführliche Radiointerview zu Stück und Produktion mit dem Linzer Musikdramaturgen Christoph Blitt ist allen Britten-Interessierten zu empfehlen


Und noch eine Kuriosität: das Linzer Musiktheater bietet bisher keinen Trailer der Britten-Neuproduktion an. Dafür steht Venedig aber derzeit doppelt auf dem Linzer Spielplan – neben Brittens Tod in Venedig gibt es auch Eine Nacht in Venedig von Johann Strauss. Anfang Juni stehen beide Stücke sogar an aufeinanderfolgenden Tagen auf dem Programm. Von der Operetten-Produktion gibt es einen Trailer – der beginnt mit den Worten: Setzt eine Maske auf und lasst euch verzaubern. Ob dies im Operetten-Venedig gelungen ist, kann ich nicht beurteilen – bei Britten vermisste ich jedenfalls szenischen Zauber.