Linz: „Die andere Seite“, Michael Obst

Alfred Kubin in einer surrealen Irrenanstalt

Es ist dies bereits die dritte Oper des 1955 in Frankfurt am Main geborenen deutschen Pianisten und Komponisten Michael Obst. Nach seiner Kammeroper „Solaris“ (1996) nach dem gleichnamigen Roman von Stanisław Lem aus dem Jahr 1961, seiner abendfüllenden Oper „Caroline“ (1999), die das Verhältnis von Caroline Schelling (1763-1809), geb. Michaelis, verwitwete Böhmer, geschiedene Schlegel, verheiratete Schelling zu August Wilhelm von Schlegel (1767-1845) und zu dem um 12 Jahre jüngeren Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775-1854) thematisiert, und schließlich „Die andere Seite“, nach dem gleichnamigen und einzigem Roman von Alfred Kubin (1877-1959), die am 25. September 2010 am Mainfranken Theater in Würzburg uraufgeführt wurde.

Bei der Aufführung in Linz handelt es sich erst um die zweite Inszenierung dieser Oper und – was besonders erstaunlich ist – um die zweite Oper von Michael Obst, die in ein- und derselben Saison im Musiktheater am Volksgarten, nach „Solaris“(17.9.2016), gezeigt wurde. Freilich kommt bei Alfred Kubin noch ein Nahebezug zu Linz und Schärding zum Tragen, da Kubin bis zu seinem Tod auf Schloss Zwickledt in Wernstein am Inn, politischer Bezirk Schärding, gewohnt hatte. Der fantastische Roman von Alfred Kubin entstand nun 1908 während einer Schaffenskrise, wurde 1909 mit 52 Illustrationen Kubins veröffentlicht und 1973 unter dem Titel „Traumstadt“ von Johannes Schaaf verfilmt.

Hermann Schreiber, der Intendant des Theaters in Würzburg, hat aus dem Roman ein Libretto in 18 Szenen mit Prolog und Epilog angefertigt, das nicht unbedingt viel zum Verständnis des Romans mit seiner psychologisch überfrachteten Handlung, die nachgerade aus verschiedenen Blickwinkeln heraus interpretiert werden kann. Während im Roman der Zeichner (Kubin) in die Hauptstadt „Perle“ des von Multimillionär Claus Patera im fernen Asien geschaffenen Traumreichs reist, spielt die Handlung in Linz in der Inszenierung von John Dew in einer psychiatrischen Irrenanstalt zur Zeit der Entstehung des Romans. Neben dem üblichen Personal eines Krankenhauses begegnen wir auch einem gewaltigen Chor an inhaftierten Insassen hinter Gitterstäben und Horrorgeschöpfen in den unheimlichen Masken von Uwe Wagner. Der Zeichner von Martin Achrainer ist in dieser Inszenierung von Anbeginn äußerst nervös, überspannt und neurotisch zerfahren porträtiert.

Sein tonloser qualvoller Schrei zu Beginn der Oper ist eine cineastische Referenz an Al Pacino auf den Stufen des Teatro Massimo in Palermo in Francis Ford Coppollas Film „The Godfather Part III“. Und er demonstriert auch seine körperliche Beherrschung, wenn er den „liegenden Helden“ (Supta- Virasana), eine Yoga Position, ausführt. Die „Anstalt“ dient dem Zeichner zunächst noch als Inspirationsquelle, doch nach dem Tod seiner Frau keimen in ihm ungeheure Horrorvisionen auf, auf deren Höhepunkt das Traumreich einer Irrenanstalt langsam wieder untergeht. Seine Gattin (Gotho Griesmeier) erscheint und holt den „geheilten“ Zeichner wieder ab. Auf Grund einer Entzündung konnte sie die Rolle an diesem Abend nur ausdrucksstark spielen, gesungen hat sie vom Rand der Bühne aus den bereitgestellten Notenblättern besonders ausdrucksstark Jennifer Davison. Bravo! Countertenor Denis Lakey hat die Rolle des Patera bereits bei der Uraufführung gesungen. Er verlieh der Figur einen skurril dämonischen Ausdruck und erinnerte etwas an Dr. Miracle aus Offenbachs Les Contes d’Hoffmann. Nikolai Galkin gefiel in der Doppelrolle eines Verkäufers und eines Wirtes. Rollengerecht ergänzten spielfreudig Csaba Grünfelder als Kleiner Herr und Amtsperson, Michael Wagner als Friseur und Arzt, Matthäus Schmidlechner als Gast und Zoologe, John F. Kutil in der Sprechrolle von Pateras Gegenspieler Herkules Bell, Martha Hirschmann als laszive Krankenschwester Melitta mit gut geführtem Sopran und Jochen Bohnen sowie Tomaz Kovacic als zwei Schachspieler.

Michael Obst bezog häufig elektroakustische Musik in seine Komposition, deren melodische Grundstrukturen ihre Wurzeln in armenischer Musik finden. Daneben setzt er auch eine Sprechstimme (Christian Manuel Oliveira) und am Ende der Oper einen gespenstisch wirkenden A-capella Chor (Leitung: Georg Leopold) zu der auf einer Volksweise aus dem 18. Jhd. stammenden Melodie und Textes zum Abendlied „Kein schöner Land in dieser Zeit“ von Anton Wilhelm von Zuccalmaglio, genannt Wilhelm von Waldbrühl (1803-69), ein. Dazwischen zauberte Marc Reibel am Pult des Bruckner Orchesters Linz flirrende Klangwolken in freier Tonalität gepaart mit meditativen Passagen, die entfernt der Gregorianik verpflichtet zu sein schienen. Die Ausstattung von Dirk Hofacker unterwarf sich dem Regiekonzept und verortete die Kostüme ins frühe 20. Jhd. Die Bühne wiederum entsprach jenen Anstalten, die man heute noch in Resten im Sanatorium Baumgartner Höhe in Wien findet. Und da darf natürlich auch die berühmte Couch aus Sigmund Freuds Berggasse 19 nicht fehlen.

Das Musiktheater war leider recht schlecht besucht und zwei Personen in der ersten Reihe verließen noch während der Aufführung das Haus. Schade! Mag man auch darüber streiten, ob sich dieser Roman als Opernstoff überhaupt eignet, musikalisch war er jedenfalls durchaus interessant, aber mehr auch nicht. Nach 100 Minuten war der Spuk vorbei und höflicher Applaus bedanke alle Mitwirkenden! Bravorufe gab es natürlich für die Linzer Publikumslieblinge Martha Hirschmann und Martin Achrainer.

Harald Lacina, 26.6.

Fotocredits: Sakher Almonem und Tom Mesic