Premiere am 23.02.2014
Kammerspiel im Villenbunker-Wohnzimmer
In die Länge gezogener Beziehungsthriller
CARMEN ist Georges Bizets letzte Oper und zugleich sein größter Publikumserfolg. Die Titelheldin steht als verführerische Femme fatale in der Tradition von Verdis Violetta und weist voraus auf Schönbergs Lulu. Schauplatz und Musik der Oper lassen das typisch spanische Kolorit erkennen. Doch Carmen ist mehr als eine folkloristische Ausstattungsoper. Es ist ein Stück über komplett unterschiedliche Lebensentwürfe und die fatale Verbindung von Liebe und Freiheit, Pflicht und Leidenschaft. L’amour est un oiseau rebelle. Carmen ist der Traum aller Männerphantasien, voll impulsiver Sinnlichkeit und erotischer Anziehungskraft.
Einfach macht es Regisseur Tobias Kratzer den ZuschauerInnen im Luzerner Theater nicht, in seine Carmen-Version hineinzufinden. Er dehnt die finale Konfrontation der selbstbestimmt ihren Lebensentwurf durchsetzenden Frau Carmen und ihres Stalkers Don José über die gesamte Spieldauer der vier Akte aus, inklusive Ouvertüre, unterbrochen nur durch gewisse Rückblenden, welche durch ein geschicktes Lichtdesign veranschaulicht werden. Kratzer reduziert die Handlung (und die kargen, auf seine Sichtweise angepassten, gesprochenen Dialoge) auf ein Kammerspiel im Villenbunker-Wohnzimmer des Ehepaars Escamillo. Wer genau dieser Herr Escamillo ist, wird nicht so ganz klar: Ein erfolgreicher, mafiöser Unternehmer, ein schwerreicher Stierkämpfer, ein diktatorischer Politiker? Jedenfalls hat er eine Assistentin/Agentin, mit der er gerne rummacht, kaum schaut seine Frau Carmen weg. Er gibt Pressekonferenzen, die sich seine Gemahlin zu Hause am Flachbildschirm anschaut und kleidet sich für den vierten Akt im Bad als Toréador um. Dabei muss er selbstverständlich auch noch aufs Klo, und die Zuschauer sind natürlich froh, dass sie das auch miterleben dürfen…
Jutta Maria Böhnert
Überhaupt ist es spannend, was sich so alles im Bad der Familie Escamillo abspielt: In der Rückblende jassen die beiden faschistoiden Schergen Zuniga (hervorragend besetz mit Flurin Caduff) und Moralès (auch er mit dem voll strömenden Bariton von Todd Boyce eine absolute Luxusbesetzung für die kleine Rolle) miteinander aus, wer denn nun Carmen als erster vergewaltigen dürfe. Was sie dort sonst noch so alles treiben, sieht man zum Glück nicht richtig. In dieses Bad flüchtet sich auch Carmen vor Don José, der sich heimlich in ihren Luxus-Bunker geschlichen hat, um seine Ehemalige für sich zurückzugewinnen. José tritt die Türe diese Bades ein, zerrt die Angebetete heraus und zwingt sie mit vorgehaltener Waffe, ein Flamencokleid und eine schwarze Perücke anzuziehen und für ihn zu tanzen. Billige Männerphantasien halt. Als Escamillo mit Assistentin eintritt (er mag seine Frau lieber blond), bemerkt er die eingetretene Tür im Bad selbstverständlich nicht. (!) Zwischendurch wird Josés sadistisches Spiel (der Ring wird durch Kabelbinder symbolisiert!) durch einen Handyanruf Micaëlas unterbrochen, das Duett Parle-moi de ma mère halten die beiden als Mobiltelefongespräch ab. Nachdem man diesem Treiben zwei Akte lang zugeschaut und sich einigermaßen in die Erzählweise des Regisseurs hineingelebt hat, wäre eigentlich nach der Pause noch ein Paukenschlag fällig gewesen, doch das Pulver des Psychothriller-Kammerspiels ist bereits verpufft. Das Stück wälzt sich so fort, wie es begonnen hat, alles wiederholt sich. Mit filmischen Mitteln wäre das Konzept vielleicht sogar stimmig umsetzbar gewesen, für die Bühne gibt es zu wenig her: Auch der dritte und der vierte Akt spielen unverändert im Wohnzimmer (Bühne: Rainer Sellmeier): Ledersofa, der ausgestopfte Bullenkopf überm Fernseher, die offene und zerstörte Tür zum Bad. Einige Backflashes, eine Kartenszene mit Handy-Wahrsagung und sich drehender Wodkaflasche. Carmen klaut Josés Handy, drückt die Wiederholungstaste und ruft damit Micaëla auf den Plan. Die kraxelt mit den andern eine Viertelstunde auf dem Boden herum und dann ruft José erstaunt: „Wo kommst du denn her?“ (Lacher im Publikum) Das sind kleine handwerkliche Fehler der Regie, die nicht sein müssten. Konsequent und überzeugend von der Personenführung her gestaltet ist dann das Ende der Oper, die Auseinandersetzung zwischen José und Carmen kulminiert im Selbstmord der gestalkten Frau, selbstbestimmt bis zum Ende. José will sich selbst richten, allein dafür fehlt ihm, dem Versager auf der ganzen Linie, dann doch der Mut.
Carlo Jung-Heyk Cho (José), Carolyn Dobbin (Carmen)
Die Sängerinnen und Sänger sind um ihre Aufgaben nicht zu beneiden. Sie lassen sich jedoch mit großartiger Darstellungskunst auf die ihnen aufoktroyierten Rollen ein. Carmen kommt ein bisschen als Luxusnutte daher, hat sich in der Bunkervilla des Don Escamillo recht gut eingerichtet, frönt dem Liebesspiel mit ihrem Mann, der jedoch schon wieder nach Frischfleisch Ausschau hält. Carolyn Dobbin spielt diese Frau zwischen Angst vor dem Stalker und frivoler Lebenslust sehr überzeugend. Stimmlich ist sie eine ganz große Überraschung, denn sie bezirzt die Männer nicht mit brustigem Röhren sondern mit einer gepflegten Mozartstimme – ein überaus interessantes Experiment des Besetzungsbüros, eine Carmen, die wirklich singt und nicht nur vibratoreich gurrt. Wenn man mal all die Baltsas, Resniks und Hornes vergisst, entdeckt man wunderbare Schattierungen in der Gesangslinie. Die Habanera singt sie frisch geduscht, Handtuch kunstvoll um den Kopf gewickelt, im Bademantel und sich gleichzeitig mit der Pedicure beschäftigend. Herrlich! Dass Frau Dobbin auch über die notwendige Durchschlagskraft verfügt, zeigt sie im hochdramatischen Schlussduett.
Carlo Jung-Hey Cho ist zu bedauern: José mag nicht die allersympathischste Figur der Opernwelt sein, doch als bekloppt-debilen, läppisch agierenden Underdog muss man ihn nun auch nicht gerade zeichnen. Aufhorchen lässt er mit der wunderschön lyrisch vorgetragenen Blumenarie! So sind die Sympathien schnell verteilt, sie liegen ganz auf der Seite der Frau(-en). Denn auch die Micaëla von Jutta Maria Böhnert ist nicht bloß das naive Landei, sondern zeigt wortwörtlich Krallen, auch stimmlich glänzt sie mit Biss, die Stimme ist für das kleine Luzerner Haus an manchen Stellen schon fast zu groß, sie dürfte sich durchaus erlauben, etwas Druck wegzunehmen. William Berger ist ein stimmlich hervorragender Escamillo, diktiert den Toreador-Song gekonnt seiner Assistentin (oder ist es doch eine Journalistin?) und spielt diesen unsympathischen Grapscher und Machtmenschen überzeugend widerwärtig. Marie-Luise Dressen, Dana Marbach, Robert Maszl und Utku Kuzuluk sind Garanten für hochklassige Sängerdarsteller der Schmugglerfreunde Carmens (was sie genau an zwielichtigem Treiben veranstalten, wird nicht so ganz klar). Wie in einer antiken Tragödie bleibt der Chor schwarzgekleidet (erst beim Schlussapplaus konnte man so richtig erkennen, welch kostbare Kostüme Rainer Sellmaier für die ChorsängerInnen entworfen hat) die Handlung kommentierend und sensationsgeil verfolgend am Rand des Orchestergrabens platziert, was akustisch für die Besucher im vorderen Parkett gelinde gesagt etwas unvorteilhaft ist. Anzumerken ist, dass der Chor und der Extrachor des Luzerner Theaters von Mark Daver exzellent auf ihre Aufgabe vorbereitet worden sind, genauso wie die Luzerner Sängerknaben (Einstudierung Eberhard Rex), die für ihren kurzen, aber sängerisch wahrlich bemerkenswerten Auftritt in niedliche Toreadoren-Kostüme gewandet werden und dem undankbaren Kulturbanausen Escamillo ein Ständchen bringen dürfen. In solchen Momenten bewundert man dann wieder die genaue Personenführung und detailreiche Charakterzeichnung durch den Regisseur.
Carolyn Dobbin (Carmen), William Berger(Escamillo)
Sehr glücklich wurde man an diesem Abend jedoch vor allem mit der Musik, die man aus dem Orchestergraben zu hören bekam. Howard Arman und das Luzerner Sinfonieorchester präsentierten einen schlanken aber schmissigen Klang, wunderbar sauber gespielte Passagen der Hörner (z.B. in der Einleitung zu Micaëlas Arie im dritten Akt!) ließen aufhorchen. Einzig das so wunderschön verträumte Vorspiel zum dritten Akt geriet etwas gar herb und diesseitig, was dann jedoch auch wieder zum eher derben Realismus auf der Bühne passte.
L’amour est un oiseau rebelle. Carmen ist der Traum aller Männerphantasien, voll impulsiver Sinnlichkeit und erotischer Anziehungskraft.
Fazit: Kratzers ANNA BOLENA in Luzern war schlichtweg genial, diese CARMEN Version als in die Länge gezogener Beziehungsthriller bedürfte noch einer Überarbeitung. Das Premierenpublikum reagierte jedoch ausgesprochen freundlich und zustimmend auf die eigenwillige Regiearbeit. Weitere Aufführungen: 23.2. | 26.2. | 28.2. | 22.3. (in Visp) | 29.3. | 1.4. | 4.4. | 11.4. | 13.4. | 21.4. | 1.5. | 4.5. | 11.5. | 15.5. | 24.5. | 14.6.2014
Kaspar Sannemann, 24.02.2014
Fotos: Ingo Höhn
Der Originalbeitrag befindet sich bei unserem Kooperationspartner oper-aktuell: