Monaco: „Déjanire“ Camille-Saint-Saëns

Eine letzte unbekannte Oper zum 100. Todestag des Komponisten, als Konzert mit dem Philharmonischen Orchester von Monte-Carlo und bald als Buch-CD beim Palazzetto Bru Zane.

Opéra de Monte-Carlo © Société des Bains de Mer de Monte-Carlo

Wieder an die Riviera! Da ist der Merker schon viel zu lange nicht mehr gewesen – seitdem unsere langjährige Merkerin in Nizza Edith Mrazek-Sommer die Feder niederlegte. In Nice steht das größte Opernhaus (1.100 Plätze), das vor allem wegen seiner „Haus-Interpreten“ bekannt war, die man in den Gängen auf vielen Bildern noch sieht. So wurde das Foyer 2010 durch den Bürgermeister „Montserrat Caballé“ getauft – natürlich in Anwesenheit der Sängerin, die hier viele Liederabende gegeben hat. Am Abend vor der „Déjanire“ in Monaco gab es ein Konzert um César Franck (1822-1890) – dem das Palazzetto Bru Zane im Juni zu seinem 200sten Jubiläum ein kleines Festival gewidmet hat (wir haben über Francks total unbekannte Oper „Hulda“ berichtet). Michel Plasson, inzwischen schon 89 Jahre alt, zeigte nun, dass man Franck auch ohne Kraft dirigieren kann: quasi nur mit den Augen und kleinen Handbewegungen – berührend schön! Und er hatte dazu als Solisten zwei junge 18-jährige ukrainische Musiker aus seiner Sommer-„Académie internationale de musique française“ eingeladen, die wunderbar mit ihm gespielt haben. Trotz 71 Jahren Altersunterschied – das habe ich noch nie auf einer Bühne erlebt.

Opéra de Nice mit Blick auf die Riviera © D. Jaussein

Die viel kleinere Opéra de Monte-Carlo (um die 500 Plätze) hat eine große, spannende Vergangenheit, an die sich heute leider beinahe niemand mehr erinnert. Denn sie war am Ende der Belle Epoque quasi das zweite französische Opernhaus nach Paris. Schon rein optisch, denn Prinz Albert I von Monaco (1848-1922), gab dem Architekten der Pariser Oper Charles Garnier den Auftrag bitte ungefähr das Gleiche in Monaco zu bauen: ein Casino mit zusätzlich einem Opernhaus. Beide wurden schon 1879 eröffnet (4 Jahre nach dem Palais Garnier in Paris), wobei das Casino vorerst am meisten Aufmerksamkeit bekam. Als dieses, Dank sei der Geschäftstüchtigkeit der Direktorfamilie Blanc, solch unglaubliche Gewinne machte, dass man in Monaco keine Steuern mehr zu zahlen brauchte, engagierte der
kultivierte Prinz einen jungen rumänischen Schriftsteller und Komponisten, der einer der größten Operndirektoren seiner Zeit werden würde: Raoul Gunsbourg (1860-1955). Über den in Bukarest geborenen Abenteurer wurden einige Romane aber (leider noch) keine verlässliche Biographie geschrieben. Nachdem er anscheinend ab 1881 erst in Moskau und dann an anderen Orten kleinere (Wander-)Bühnen geleitet hatte, wurde er 1889 Direktor der Oper in Nizza und von dort aus 1892 Intendant der Oper in Monte-Carlo. Einen Posten den er (fast) 60 Jahre (!) behielt, bis er 1951 mit 91 Jahren hochgefeiert in den Ruhestand ging. Gunsbourg hatte einen guten Riecher für was in Paris schiefgegangen war und in Monaco für internationales Interesse sorgen könnte. Er begann seine Erfolgsserie 1893 mit der szenischen
Uraufführung von „La Damnation de Faust“, bei deren konzertanten Erstaufführung in Paris Hector Berlioz 1846 Bankrott gegangen war und an die sich kein Opernhaus (mehr) wagen wollte. Danach wandte er sich an angesehene Komponisten, die es in Paris auch nicht immer ganz leicht hatten. An erster Stelle Jules Massenet, der von 1902 („Le jongleur de Notre-Dame“) bis zu seinem Tode 1912 („Roma“) 8 Opern in Monaco uraufführen würde (wonach
posthum noch zwei 1914 und 1922 folgten). Massenet war sozusagen Hauskomponist in Monaco mit eigener Wohnung im Prinzenpalast. Ihm folgte Camille Saint-Saëns, von dem in der Belle Epoque auch jedes Jahr eine Oper gespielt wurde, der jedoch „nur“ drei Opern in Monte Carlo uraufgeführt hat: „Hélène“ (1904), „L’Ancètre“ (1906) und „Déjanire“ (1911, seine letzte Oper). Andere Komponisten kamen natürlich auch, so gab es zum Beispiel 1917
die Uraufführung von der schönen Oper von Giacomo Puccini „La Rondine“ (leider so selten gespielt!) und 1927 die von „L’Enfant et les sortilèges“ von Maurice Ravel. Also unter Raoul Gunsbourg war an der Opéra de Monte-Carlo mächtig etwas los und es freut uns sehr, dass im Rahmen der Centenar-Feiern des 1922 verstorbenen Prinzen nun endlich eine allererste Raoul Gunsbourg-Ausstellung organisiert wird (im Grimaldi-Forum). Ein Rückblick, bevor ab Jänner 2023 Cecila Bartoli die Geschicke der Oper in der Hand nehmen wird, eingeläutet durch das sensationelle Gastspiel letzten Sommer an der Wiener Staatsoper.

Der legendäre Intendant Raoul Gunsbourg (links), vor dem gemeinsamen Eingang für Oper und Casino, mit Enrico Caruso und dem Direktor Camille Blanc (rechts) © Société des Bains de Mer de Monte-Carlo

Initiator der jetzigen „Déjanire“-Aufnahme, war nicht die Oper, sondern das viel ältere Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo, das sich auch im Rahmen des „Centenaire Albert 1er“ an seine glorreiche Vergangenheit erinnert (es wurde schon 1856 gegründet). Da war eine weitere unbekannte Oper von Camille Saint-Saëns (1835-1921) natürlich gefundenes Fressen für das Palazzetto Bru Zane, das im Jubiläumsjahr zu dessen 100en Todestag schon
drei seiner (bis auf auf eine) heute völlig vergessenen 13 Opern aufgenommen hat. Wir haben schon berichtet über „Le timbre d’argent“ (Die silberne Glocke, 1864), „La princesse jaune“ (Die gelbe Prinzessin, 1872) und im Juni/Juli recht ausführlich über „Phryné“ (1893, an der Opéra Comique in Paris). „Déjanire“ (1911) ist wieder andere Kost: eine große
„Tragédie lyrique“ in vier Akten mit einem ähnlich mythologischen Sujet als „Phryné“. Es könnte gut sein, dass Prinz Albert I – der gute persönliche Beziehungen zu Saint-Saëns hatte – ihn ganz direkt um genau dieses Thema gebeten hat. Denn die Grimaldis hatten/haben etwas mit Herakles, der – so die mythologische Überlieferung – auf dem Rückweg von Gribaltar hinter dem Felsen von Monaco als erster den noch heute bestehenden Hafen Le Port d’Hercule angelegt hätte. Deswegen wurde im 16. Jahrhundert, als die Grimaldis endlich die unbestrittenen Herrscher auf dem Felsen geworden waren, der ganze Palast mit Herkules-Fresken bemalt, die man seit letztem Sommer zum ersten Mal wieder sehen kann (sehr eindrucksvoll!). Für seine letzte Oper wählte der Komponist das wenig dargestellte Thema
von Herkules‘ Tod. Der unbezwingbare Held starb nämlich wegen einem vergifteten Hemd/Gewand, das ihm seine eifersüchtige Gattin Deïaneira (Déjanire) anlegte, als er sich mit (noch) einer anderen Frau vermählen wollte, der schönen Prinzessin Iole. Ein Mann, der zwei Frauen liebt, ist eine klassische Opern-Dreiecksgeschichte, dem der Librettist Louis Gallet noch eine Dimension mehr gab, indem er dafür sorgte, dass Iole sich gleichzeitig in den „besten Freund“ von Hercule verliebt, Philoctète – der deswegen im Gefängnis landet. Sie heiratet also in der Oper mit Herakles, um so den Geliebten aus dem Kerker zu holen. Kein Wunder, dass die Männer in der Oper nicht so ganz verstehen, was die Frauen nun wirklich wollen und wir als Publikum den vielen Gefühlsregungen auch nicht immer so ganz folgen können – aber die Musik ist wunderbar. Saint-Saëns zeigt sich auf der Höhe seines Könnens: Arien, Duette, Trios – wobei die Sopran-Arien der unschuldigen Iole besonders hervorstechen.

 Yvonne Dubel von der Pariser Oper in der Rolle de Iole bei der Uraufführung von „Déjanire“ 1911 an der Opéra de Monte-Carlo © Palazzetto Bru Zane

Bei der musikalischen Wiedergabe muss man ausnahmsweise das Orchester an erste Stelle setzen. Welch ein Unterschied zu den Opernorchestern, die wir in den letzten Wochen gehört haben! Das Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo wirkt unter Leitung seines Chef-Dirigenten Kazuki Yamada (seit 2016) wie eine der Limousinen die vor dem Casino stehen: es fährt ruhig, leise und elegant mühelos durch jede Kurve, mal schneller, mal langsamer, ohne dass der Zusammenhalt gefährdet wird. Als ob sie schon hundert Mal „Déjanire“ von Camille Saint-Saëns gespielt hätten. Ein besonderes Lob an den Konzertmeister David Lefèvre für die elegante Bogenführung (anscheinend eine riesige Arbeit, da „Déjanire“ seit 1911 nirgendwo mehr gespielt worden ist und das ganze Orchester-Material nun neu erstellt werden musste) und an das Chordirigat von Stefano Visconti, denn der Choeur de l‘Opéra de Monte-Carlo sang genau so souverän wie das Orchester. Den Sängern konnte man in dem riesigen Auditorium Rainier III etwas anhören, dass sie gerade eine Woche Plattenaufnahme hinter sich hatten – aber das wird man auf der Platte sicher nicht hören und auf sie kommt es im Endeffekt ja an. Kate Aldrich war eine eindrucksvolle, liebende und rachesüchtige Déjanire, der Julien Dran als französischer Heldentenor Hercule mühelos das Wasser reichen konnte. Im zweiten Paar bestach Anaïs Constans als berührende Iole (sie war im Juni noch die kecke Lampito von „Phryné“), äußerst charmant unterstützt durch den sympathischen Jérôme Boutillier als Philoctète. Und schon bezeichnend für die ausgezeichneten Sänger-Besetzungen des Palazzetto Bru Zane, dass Anna Dowsley in der kleinen Rolle der Amme Phénice eine solche Stimme hat, dass sie demnächst ein bisschen weiter an der Riviera, in Genua, die Adalgisa der „Norma“ singen wird.

Dann wird auch voraussichtlich dies vorerst einmal letzte Buch-CD des Palazzetto mit unbekannten Opern von Saint-Saëns erscheinen und kommt in dieser neuen Spielzeit ein neuer Komponist an die Reihe: Jules Massenet und seine unbekannten Opern aus seinen letzten (Monaco-)Jahren, so wie seine „Ariane“ (1906), die Ende Januar 2023 im Prinzregententheater in München als Platte aufgenommen werden wird (mit der gleichen Kate Aldrich als Phèdre). Und bis dahin kann man sich schon einhören mit der vergnüglichen Platte Jules Massenet – songs with Orchestra. 21 von den 23 aufgenommen Orchesterliedern – einige so schön, dass man sie sich mühelos in unseren Konzertprogrammen vorstellen kann – sind „world premiere recordings“! Das zeigt noch einmal, wie viel es noch zu entdecken gibt, auch bei so bekannten Komponisten wie Massenet und Saint-Saëns. Und mit dieser schönen kleinen Platte (gerade im September bei dem Palazzetto erschienenen) kann man in Gedanken an die Riviera reisen, wo es sehr viel mehr Oper gab und gibt als man vielleicht denken könnte.

Waldemar Kamer, 19.10.2022


Camille-Saint-Saëns – „Déjanire“ / Premiere am 16. Oktober 2022 im Auditorium Rainier III, Monaco

Musikalische Leitung: Kazuki Yamada

Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo

Ausstellung Raoul Gunsbourg im Grimaldi Forum 14. bis 27. November 2022