Lübeck, Konzert: „NDR Elbphilharmonie“, Ryan Bancroft mit Joshua Bell

Die Programmhefte für diesen besonderen Konzertabend waren in Hamburg vergessen worden, aber wer brauchte die schon bei dieser Musik, die so für sich sprach – zumal mit einem Geiger, der als einzigen Programmpunkt Kadenzen spielen könnte und niemandem würde der Abend lang!

Mit zwei französischen Werken glänzt Joshua Bell und gleich mit Chaussons „Poème für Violine und Orchester“ entfaltet er die ganze schwärmerische elegische Klangfülle dieses beliebten Werks, das von getragenen Passagen und leidenschaftlicher Fülle geprägt ist. Bei aller Melancholie, die in diesem stimmungsvollen Tongedicht lebt, senkt es sich doch nie in existentielle Abgründe, sondern zelebriert immer wieder die Schönheit des Klangs und Joshua Bell versteht es, diesem strahlenden Ausdruck zu geben.

(c) Ben Ealovega

Sein Strich ist samtig; er ist auch ein Meister der ganz feinen, zarten Töne, die er zu erheben vermag wie eine Lerche, die sich in die Höhe schwingt. Mit ganzem Leib bringt Bell die Musik hervor, ohne daß dies jemals wie Pose wirkt; er bildet mit seiner Stradivari „Gilbert ex Huberman“ eine organische Einheit, biegt sich, geht in die Knie, atmet hörbar.

Das reizvolle Weiterreichen der Motive in dem Stück beherrschen Solist und das NDR Elbphilharmonie Orchester ausgezeichnet und dynamisch wunderbar ausgewogen. Ryan Bancroft leitet den Klangkörper mit einer ungemein sympathischen Mischung aus vollem Einsatz und Zurückhaltung, was die eigene Person angeht. Alle dienen dieser expressiven, aber nie exaltierten Musik und es fällt im Verlauf des Abends auf, wie Bancroft jedesmal seinen Dirigierstil ändert und dem anpaßt, was die Partitur fordert – oder vorschlägt. Die Armbewegungen des Dirigenten wechseln rasch von runden Schleifen zu kantigen Wendungen – würde er ein Ornament zeichnen, entspräche es barockem Bandelwerk mit der charakteristischen Kombination aus gerundeten und eckigen Bändern.

Beim begeisterten Beifall nach dieser musikalischen Dichtung applaudiert Bancroft stets dem Solisten und zeigt, daß er bei allem, was hier passiert, Teil des Ganzen ist.

Im 5. Violinkonzert von Vieuxtemps entfaltet sich typisch französische Opulenz in einer detailverliebten Orchestrierung – Berlioz läßt schön grüßen –und einem Bekenntnis zu reiner Freude am Klang, die eine deutsche Schwere umgeht, obgleich den Komponisten viel mit Deutschland und der dort geschaffenen Musik verband. Seine Freundschaften mit Schumann und Spohr sprechen aber Bände, denn auch bei diesen Tonsetzern fehlt bei teils dramatischen biographischen Hintergründen das, was in Frankreich als „Wagnérisme“ oft als zu schwer und massig gescholten wurde. Vieuxtemps´ artifizielles Verarbeiten durchaus naiver Themen gemahnt sogar – aber auch nur in diesem Aspekt – an Beethoven.

(c) Shervin Lainetz

Auch in diesem Werk verleiht Bell seiner Violine klangliche Flügel und läßt die Klänge mal hoch aufsteigen, mal segeln die langen Töne wie eine Möwe, mal wechseln sie flink die Richtung wie eine aufgeschreckte Amsel. Sein Vibrato ist stets gemessen und liebkost die langgezogenen Folgen; die Flageolett-Passagen wirken niemals kratzig, sondern bewahren immer den cremigen Schmelz seines Spiels. Und ja, die Kadenz, die er stilgerecht verziert, könnte Stunden dauern und würde immer neue Wendungen nehmen, Höhen erklimmen und so das Publikum bannen. Das auswendige Spiel ist natürlich Ehrensache! Bei allem bubenhaftem Charme ist Bell doch in jeder Sekunde ein Virtuose von Weltrang.

Bancroft zeichnet nun eher Festonbögen, also feierliche Girlanden – fast möchte man von einer Ornamentik des Dirigats sprechen, die der musikalische Leiter hier entwirft.

Der enthusiastische Beifall gilt zwar allen Mitwirkenden, aber wieder läßt Bancroft dem Solisten den Vortritt und setzt sich bei der Zugabe bescheiden in die letzte Reihe auf dem Podium.

Dieses Geschenk in Form einer Chopin-Nocturne überreicht Bell gemeinsam mit der Harfenistin Anaëlle Tourret und so entwerfen die beiden eine ungewöhnliche, charmante und sehr zarte Interpretation des bekannten Stücks.

Nach der Pause geht es in die blaue Tiefe und die ist in Zemlinskys „Seejungfrau“, seiner Phantasie für großes Orchester nach dem Märchen von Hans Christian Andersen, tatsächlich noch traulich und treu, solange sie das sehnsüchtige Mädchen mit den grünen Augen elterlich umhüllt, bevor es sich aufmacht, in der Welt der Menschen nach Liebe zu suchen und den Schmerz zu finden.

Im impressionistischen Flirren sieht man die Fische flink umherschwimmen, die Sonne strahlt sanft ins Dämmerlicht und die Seejungfrau durchstreift mit ausgreifenden Bewegungen die Weite des Ozeans. Hat der Rhythmus der Wellen wenige Jahre später Rachmaninow zu Charons Ruderschlägen in seiner „Toteninsel“ inspiriert?

Und wieder dirigiert Bancroft völlig anders; er durchpflügt zuweilen das Meer, schwimmt mit dem Wassermädchen durch die Wogen und dessen innere Bewegtheit spiegelt sich in seinem Körper wider. Das ist keine eigentliche Programm-Musik und Märchen-Illustration, vielmehr sind es klangvolle Stimmungsbilder, die hier mit pointillistischen Tupfen aufgehellt werden.

Nach einer kurzen Schock-Fermate funkelt wieder alles in zauberhaftem Glanz – schade, daß das Publikum nach diesem Satz die Stimmung zerklatscht. Leider passiert das auch nach dem zweiten Satz; sei´s drum, die Tumbheit kann dieser Musik letztlich doch nichts anhaben.

Sehnen und Flehen haben das Wassergeschöpf an Land gebracht, wo aufragende Burgen, Ritter, Jagd und Tanzvergnügen die Welt der Menschen klanglich illustrieren. Man denkt zuweilen an Janáčeks märchenhafte Tonwelten, die aber stets zu komplex gewesen sind, um sie für tschechische Märchenfilme zu verwenden, auch wenn da immer wieder eine Assoziation mitschwingt. Mahlers „Klagendes Lied“ spielt ebenfalls mit diesen Tonbildern und das paßt natürlich alles in eine Jahrhundertwende-Zeit, in der Literatur, Bildende Kunst und Musik einander in farbenprächtigster Manier befruchteten und das Märchenhafte noch Thema sein dufte, vor allen Katastrophen des 20. Jahrhunderts.

Auch in diesem Satz gibt es eine Fermate, ebenso wie im Finalsatz. Solch ruckartiges Innehalten mag an Schreckmomente im Leben der unglücklich Liebenden gemahnen, eine Existenz zwischen den Welten, die endlich, untermalt von strahlendem Glitzer, sich in die Lüfte erhebt. Die Harfe zaubert kleine Goldtropfen wie auf einem Klimt-Gemälde und schimmernd-glänzend endet dies traumhafte Werk.

Langer Applaus, vor allem von denen, die sich zuvor zwischen den Sätzen angemessen zurückgehalten haben. Ein wunderbares Konzert, bei dem das Grün und Gold den grauen hanseatischen Winter durchdringt.

Andreas Ströbl, 24. Januar 2024


Lübeck
Musik- und Kongreßhalle

20. Januar 2024

Henri Vieuxtemps, Konzert für Violine und Orchester Nr. 5 a-Moll op. 37
Ernest Chausson, Poème für Violine und Orchester op. 25
Alexander von Zemlinsky, Die Seejungfrau, Phantasie für Orchester

Musikalische Leitung: Ryan Bancroft
Violine: Joshua Bell
NDR Elbphilharmonie Orchester