Augsburg: „Apollo und Hyacinth“, Wolfgang Amadeus Mozart

Drei Jahre, bevor Leopold Mozart 1719 in Augsburg geboren wurde, war Siegmund Christoph von Schrattenbach Domherr in der Lechstadt geworden. Er behielt dieses Amt bis 1764 inne, als er schon längst an jenem Ort Erzbischof war, der durch den Sohn Leopold Mozarts zur weltberühmten Musikstadt avancierte. Man liest den Namen des späteren „guten“ Dienstherren der beiden Mozarts heute noch dort, wo Leopold Mozart eins seine Jugendjahre verbrachte: im einstigen Jesuitenkolleg St. Salvator zu Augsburg.

Schon der junge Mozart schrieb für die geistliche Universität. Insofern gehört sein Opern-Opus 1, das lateinische Intermedium Apollo et Hyacinthus, wie von selbst in den Kleinen Goldenen Saal, also in das Prunkstück in der Jesuitengasse, denn Mozart komponierte die kleine Oper für eine Aufführung in einer anderen Schule: der Salzburger Universität, die von den Benediktinern betrieben wurde. Dort, in der Aula, das heißt: am Uraufführungsort, kam das Werk in einer Inszenierung von John Dew, die das Rezeptionsgeschichtliche des Stoffs und des Werks betonte, in einer der seltenen Aufführungen der Oper im Mozartjahr 2006 auf die Bühne. Damals agierten die Sängerinnen und Sänger des Mozarteums wie spätbarocke Kleiderpuppen, die von einem Marionettenspieler in Bewegung gebracht wurden. Das war schön, aber betont künstlich – doch es wirkte, weil die Musik des elfjährigen Komponisten über alle Reize verfügt, die die Musik eines nachwachsenden Jung-Genies und bereits ausgepichten Handwerkers aufzuweisen vermag.

Wovon aber handelt Apollo et Hyacinthus? Die Geschichte beginnt mit den Vorbereitungen zu einem Opferfest, das am Hof des Königs Oebalus zu Ehren der Götter, insbesondere aber für Apollo veranstaltet werden soll, der die besondere Zuneigung der Familie besitzt. Nur Zephyrus, ein Freund des Königssohnes Hyacinthus, kritisiert die Bevorzugung des Sonnengottes. Das Ritual wird plötzlich durch einen Donnerschlag unterbrochen, ein Blitz zerstört den Altar. Hyacinthus beruhigt die Gemeinde: dies sei kein schlechtes, sondern ein gutes Omen, das nicht den Zorn, sondern die Allmacht der Götter bezeuge. Plötzlich erscheint Gott Apollo selbst. Er hat sich als Schäfer verkleidet und bittet um freundliches Asyl. Freudig wird es ihm vom Familienvater gewährt. Zur Familie gehört auch Melia, die Schwester des Hyacinthus, die sich sogleich vom Gott angezogen fühlt. Die Freude ist nicht auf jeder Seite: Zephyrus merkt, dass ihm der Gott den „geliebten Knaben“ rauben würde. Melias Wunsch wird erfüllt: Apollo hält um ihre Hand an. Als sie ihren zukünftigen Gatten erwartet, bricht Zephyrus mit der Nachricht herein, dass der Gott selbst den Bruder mit einem wohlgezielten Diskurswurf schwer verletzt habe. Man ist entsetzt; Oebalus will den Gott des Landes verweisen, Melia ist tief enttäuscht. Apollo aber bestraft den wahren Schuldigen und verwandelt Zephyrus in einen Wind. Zu Beginn des dritten Akts kann Hyacinthus dem Vater noch mitteilen, wer ihn ermordet habe. Oebalus und Melia betrauern den Toten und fürchten nun, dass sich Apollo an ihnen rächen werde, da sie ihn verleumdeten – doch der Gott zeigt sich als souveräner Herrscher über Leben und Tod. Er verzeiht allen und verwandelt schließlich, da auch er den Hyacinthus liebte, den Leib des Toten in Blumen: Hyacinthen. Dann reicht er Melia die Hand. Ein lieto fine eben, ein barocker Wunschtraum eines gerechten Herrschertums.

© Hassler-Consort

In Augsburg wurde Apollo et Hyacinth nun für die Deutsche Mozart-Gesellschaft in einer szenisch sparsamen, aber ästhetisch wohlüberlegten Form auf das Podium des Goldenen Saals gebracht. Wesentlicher Pluspunkt aber ist und bleibt die musikalische Attraktivität. Hört man sich diese Off-Off-Produktion an, kann der Hörer nur staunen: die Melia der Anjulie Hartrampf ist schlicht bezaubernd, wenn sie in ihrer Arie „Laetari, iocari“ solistisch begeistert, weil ihre geläufige Gurgel über alle Feinheiten verfügt, die Mozarts spätbarock inspirierte Jugend-Kunst schlicht und einfach verlangt. Schlicht splendid ist auch ihr Einsatz im dramatisch aufgeladenen Duett, über das Peter Sühring in seinem wichtigen Buch über Mozarts früheste Opern erstmals Profundes gesagt hat, indem er die Irregularität einer Phrase der Melia nicht als Fehler, sondern als autonomen Eingriff des dramaturgisch denkenden Komponisten interpretierte. Wenn dem sie dem zunächst zu Unrecht verklagten Gott – denn nicht er, sondern Zephyrus hat den Hyacinth getötet – den Abgang geradezu befiehlt, brennt die Luft: auch in Augsburg, denn Anjulie Hartrampf singt nicht nur bezaubernd zwitschernd wie eine hochmusikalische Nachtigall, sondern auch mit kontrolliertem Nachdruck. Zum lyrischen Höhepunkt auch dieser Aufführung wird das Duett des Vaters und der Tochter/Schwester des toten Hyacinth: Über einem zarten, so gut wie unausgesetzten Zweiviertelwiegen der Sechzehntelbratschen hören wir die Pizzicati der sordinierten zweiten Geigen und der tiefen Streicher. Darüber erhebt sich eine zarte Melodie in den ersten Geigen, ruhig begleitet von den gleichfalls piano spielenden Hörnern, bevor sich die Stimmen der Beiden in zwei ähnlichen, doch nicht identischen Melodien verschlingen. Das Hassler-Consort spielt auch das unter seinem Leiter Franz Raml tonschön, nicht schleppend und liebevoll durchnuanciert. Eigentlich – und uneigentlich – müsste man alle der 16 Musikerinnen und Musiker nennen, aber ich belasse es beim Konzertmeister German Echeverri Chamorro und, neben den anderen vorzüglichen Geigen, Violen, Violoncelli, dem Bass und den Oboen, der Barockviolinistin Rita Nakad und dem Naturhornspieler Andrew Hale. Zusammen erzeugen sie einen sound, der angenehm ins Ohr dringt, weil die Expression nicht auf Kosten einer Schönheit geht, die gemeinhin, und sicher nicht ohne Recht, mit Mozart assoziiert wird. Als Einlagestücke hat man die Lambacher Sinfonie KV 45 verwendet, was den Abend zwar  etwas länger macht, aber sinnvoll ergänzt, wenn auch nicht jeder Satz total zur jeweiligen Stimmung der Handlung passt.

Ganz anders, doch nicht schlechter als Anjulie Hartrampf,klingt Theresa von Bibra, der zweite Sopran im sparsam besetzten Ensemble-Stück, das 1767, mit Ausnahme der Vaterrolle des Oebalus, mit Schülern des dritten Gymnasialjahrgangs besetzt wurde, woraus man schließen kann, welch hohen Standard die Vokalausbildung damals an der Salzburger Universität gehabt haben muss. Von Bibra spielt den Hyacinth, sie tut es mit einer weichen, aber konturierten Stimme, so dass nicht erst ihr Sterbedialog zu Herzen geht, obwohl die Distanz, die uns von jener spätbarocken Art des Opera-Seria-beeinflussten Musiktheaters trennt, messbar ist. Glänzend, sowohl dunkelgefärbt als auch deklamatorisch klar wie spielerisch aufgelegt, auch der Hyacinth des Bassisten Clemens Morgenthaler. Im Sinn der Mozartzeit empfindsam und engagiert: der Tenor, also Oebalus, Philipp Nicklaus, wobei man nicht vergessen darf, dass ausnahmslos jeder Sänger, so kurz die Oper mit ungekürzten 90 Spielminuten auch ist, eine schwere Partie absolvieren muss. Sinnigerweise singt ein Counter den Gott, der von außen ins Irdische hineinkommt. Diego Galicia Suarez, ein Mann aus Mexiko, tritt als Apollo auf die Szene; er sieht aus, wie man sich einen mexikanischen Pastor vorstellen mag. Er singt ihn so delikat wie weich, dabei Takt für Takt im Stil einer gleichfalls empfindsamen Manier, die das Sujet ernst nimmt.

© Hassler-Consort

Die szenische Interpretation ist indes keine, die einen an radikale Deutungen interessierten Opernbesucher aufschrecken müsste. Worin die Probleme des seinerzeit von den Universitätsknaben gespielten Intermediums liegen, wurde 2006 im Salzburger Programmheft kenntlich gemacht: „So hat man“ – das heißt: der Librettist Pater Rufinus Widl – damals die homosexuell konnotierte „Geschichte leider verzerrt, indem eine Schwester erfunden werden musste, in die alle scheinbar verliebt sind. Der Zweideutigkeit des Ganzen hat das nicht wirklich geholfen, da die Schwester bei der Uraufführung auch von einem Knaben gespielt worden ist. Aber tatsächlich macht diese erfundene Schwester die Geschichte von Apollo et Hyacinthus noch komplexer und pikanter als man denkt: Zephyrus ist unklar in seinen Wünschen, er liebt den Bruder, aber aus Eifersucht bringt er den Geliebten um, anschließend versucht er, als Ersatz die Schwester zur Liebe zu zwingen; dazu kommt, dass Apollo wiederum Hyacinthus nicht nur begehrt, sondern auch eine Zweckehe mit dessen Schwester eingeht. Erstaunliche Themen für einen Elfjährigen!“ In Augsburg endet die Konfusion mit einem Happy end: Hyacinth wird vom Gott wiederauferweckt, und sogar der böse Zephyrus darf ins Leben zurückkehren, bevor alle gemeinsam den versöhnlichen Schlusschor anstimmen. Auch eine Möglichkeit, mit dem Dur-Ton des Schluss-Ensembles klarzukommen. Ansonsten hat die Regisseurin Marianne Hollenstein, die sich auch das Raumkonzept ausdachte, dem Drama buchstäblich Farbe und einen Hauch Ironie verliehen. Vier bunte Campingstühle, alle Figuren mit einem eindeutigen Farbton versehen (Oebalus trägt königliches Rot, Melia zartes Rosa, Hyacinth florales Grün, Zephyrus windiges Blau, Apoll wüstenhaftes Gelb-Orange), in der Mitte eine Stele mit einem primitiven (afrikanischen?) Idol, das für den verehrten Gott steht: Mehr braucht man, rein ausstattungsmäßig betrachtet, nicht, um Apollo et Hyacinth zwischen Gestern und Heute zu realisieren – höchstens noch einen Gartengrill, der witzigerweise für den Opferaltar steht, und ein transportables Einmann-Zelt, in das man den Hyacinth gut verstecken kann. Nicht zu vergessen: die Blumen, die Apollo, als alles zu spät scheint, auf dem kurzfristig wiederbelebten Ermordeten platziert; der Rest ist ein Stillleben oder: Natura morta mit Menschen.

Nein, der Rest ist die, wie gesagt, bewegende und dramatisch relevante Musik. Im gerade neu herausgekommenen Köchel-Verzeichnis 2024 (Opernfreund-Rezension) trägt das Intermedium die Nummer 40. In Augsburg lebt es nicht durch eine, sondern gleich durch mehrere Nummern – und durch ein Ensemble, das die erstaunliche Musik des jungen Mozart auf hohem Niveau ins Heute bringt. Langer Applaus nach einem kurzweiligen Abend.

Frank Piontek, 5. November 2024


Apollo und Hyacinth
W. A. Mozart

Kleiner Goldener Saal, Augsburg

3. November 2024

Regie: Marianne Hollenstein
Musikalische Leitung: Franz Raml
Hassler-Consort