Das Festival im Norden Polens wurde im Vorjahr von Tomasz Konieczny ins Leben gerufen, hat heuer in seinem Ehrenkomitee mehr oder weniger alle internationalen Operndirektoren mit Rang und Namen, von Peter Gelb über Dominique Meyer bis Katharina Wagner und zeigt Aufführungen in Danzig, Zoppot (polnisch Sopot) und Gdingen (polnisch Gdynia, während des Nationalsozialismus Gotenhafen).
Eine sehr spezielle Aufführungsstätte dieses Festivals ist die Waldoper in Zoppot (Leşna Opera). Hier wurde 1909 erstmals eine Oper gegeben, und mit der Entwicklung Zoppots in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts zu einem beliebten Seebad entstand mitten in der Natur ein künstlerischer Brennpunkt. Ab 1921 wurden vornehmlich Wagneropern gespielt, was Zoppot zu seinem Ruf als „Bayreuth des Nordens“ verhalf. Die Vorstellungen waren mit den besten deutschen Sängern besetzt, es dirigierten u.a. Hans Knappertsbusch und Erich Kleiber. Nach der Besetzung Polens durch die Nazis vereinnahmten diese die Spielstätte, was den Ruf der Waldoper nach dem Krieg gründlich ruinierte. In den letzten Jahrzehnten wurden hier vor allem Popkonzerte veranstaltet, bis es Tomasz Konieczny mit dem Gewicht seiner international anerkannten künstlerischen Persönlichkeit gelang, den Weg zu Opernaufführungen wieder frei zu machen.
Wie gelangt man nun zu diesem wahrhaft speziellen Ort? Für diejenigen, die ihr Quartier in Danzig aufgeschlagen haben und ohne Auto unterwegs sind, gibt es die Möglichkeit, Zoppot in zwanzigminütiger Bahnfahrt zu erreichen. Ein 1,5 km langer Weg führt zunächst an Villen vorbei (die Atmosphäre ließ mich an Baden denken) und dann leicht aufwärts durch den Wald. Schließlich steht man fast überraschend vor der Form eines natürlichen Amphitheaters, in dem rund 5000 Besucher Platz haben. Unter den hölzernen Dielen der Bühne, die als Resonator dienen, gibt es freien Platz, der die Qualität der Akustik zu einer exzeptionellen macht. 1960 wurde neben technischen Neuerungen ein vom Wetter unabhängig machendes Kunststoffdach angebracht. In einem Interview im Programmheft erläutert Konieczny, dass die Sänger nur deshalb mit Headset-Mikros ausgestattet sind, damit sie allfälliges Regengeprassel übertönen können. Jedenfalls ist die Lautstärke perfekt austariert und der Stimmklang absolut natürlich. Doch nun zu den Vorstellungen.
“Der fliegende Holländer”, Richard Wagner
Schon das Bühnenbild von Boris Kudlička (Konzept) und Natalia Kitamikado ist mit seinen schwenkbaren Verstrebungen ideal. Im 2. Akt tragen diese ein Art Vorhänge, die Senta im Streit mit den anderen Mädchen zum Teil herunterreißt. Schiffe braucht es nicht, denn Dalands Mannschaft befindet sich bunt durcheinander gewürfelt in einer Art gemauertem Ring. (Am schönsten war aber dann doch die Naturkulisse aus dicht stehenden Nadelbäumen, die im Duett des 2. Akts bei „Mein Heil hab ich gefunden“ beleuchtet wurde). Als der Holländer ganz in Weiß erschien und von mehreren elfenartigen, gleichfalls weiß gekleideten, Gestalten begleitet war, empfand ich als Gegnerin hinzuerfundener Figuren zunächst Skepsis, aber sie fügten sich ausgezeichnet ins Geschehen und stimmten perfekt mit den Bewegungen des Holländers überein. Sie waren es auch, die dessen Schatz, eine golden herausgeleuchtete Kiste, zu heben vermochten, nachdem mehrere kräftige Matrosen an dieser Aufgabe gescheitert waren. Die Regie von Barbara Wiśniewska ließ Senta mit einem Leiterwagen voller Stoffpuppen auftreten, die sie nach und nach auf den Boden warf, bis sich schließlich eine Stoffpuppe in Menschengröße zeigte, die von dem Mädchen umklammert wurde. Sehr geschickt gelöst ist zum Beispiel der Spottchor, bei dem die Frauen Senta die Puppen wegnehmen, um schließlich Mitleid mit ihr zu haben. Die Damen sind in Grau mit weißen Teilen gekleidet, was bestens zur Bühnengestaltung passt (Kostüme: Dorothée Roqueplo, Lighting Designer: Bohumil Palewicz). Die Regisseurin erzählt die Handlung stringent und immer überzeugend; besonders eindrucksvoll zum Beispiel, wie die Mannschaft des Holländers im 3. Akt tot zu Boden sinkt und Senta ihn verzweifelt unter den Toten sucht. Das Opfer, um dem armen Mann sein Heil zu bringen, bringt sie, indem sie sich mit dem Messer ersticht, mit welchem vorher Erik erregt herumgefuchtelt hatte. Ein Zugeständnis an im Regietheater übliche Faktoren scheint mir, dass Daland im Rollstuhl sitzt, aus dem er sich nur zeitweise erhebt, um am Stock zu humpeln. Doch sei’s drum.
Der Abend begann insofern besorgniserregend, als Tomas Konieczny in der Titelrolle als indisponiert angesagt wurde und die Möglichkeit gegeben schien, er werde im Laufe der Vorstellung vielleicht nur mehr spielen können und sich gesanglich durch Oleksandr Pushniak ersetzen lassen müssen. Im 1. Akt war die schwere Indisposition sofort zu hören (wobei es immer wieder interessant ist, dass in solchen Fällen exponierte Höhen oft besser gelingen als tiefere Töne, ebenso wie das forte leichter realisierbar scheint, als das Singen von Pianotönen). Den 2. Akt (das Werk wurde ohne Pause gespielt) bestritt dann ohne weitere Ansage der Ersatzmann mit Mikro an der Bühnenseite. Konieczny spielte aber so grandios und Pushniak sang sehr anständig, sodass der Gesamteindruck durchaus beeindruckend ausfiel.
Senta war die Litauerin Vida Miknevičiūtė, die 2021 mit der Chrysothemis in Salzburg ihren endgültigen internationalen Durchbruch hatte. Sie war eine sehr intensive Gestalterin mit schönem, gut tragendem Sopran, bei dem gegen Ende kleinere Schärfen nicht zu überhören waren. Dominik Sutowicz als Erik zeigte ein (gewollt?) plumpes Auftreten, während er die so schwierige wie undankbare Rolle gesanglich gut bewältigte. Mit den Tiefen des Daland tat sich Rafal Siwek eher schwer, überzeugte aber als wenig mit Skrupeln behafteter Vater. Malgorzata Walewska gefiel als resche Mary, und besonders frisch klang der Steuermann von Rafal Bartmiński.
Großartig war die Leistung des von Agnieszka Dlugolęcka-Kuraś einstudierten Chors, sowohl der Damen als auch der Herren. Am Pult stand der erst 28-jährige ukrainisch-polnische Dirigent Yaroslav Shemet, der das Ukrainian Freedom Orchestra (zu diesem mehr in der nachstehenden Besprechung von „Turandot“) in organischem Aufbau, aber mit kraftvoll gesetzten Akzenten leitete.
Der fliegende Holländer
Richard Wagner
Waldoper Sopot
24. Juli 2024
Inszenierung: Barbara Wiśniewska
Musikalische Leitung: Yaroslav Shemet
Ukrainian Freedom Orchestra
„Turandot“, Giacomo Puccini
Dem Puccinijahr wurde mit jenem Werk des Komponisten aus Lucca Rechnung getragen, das sich für eine Freiluftbühne am besten eignet. Hier zeichnete Waldemar Zawodziński für Regie und Bühnenbild verantwortlich, das hier bunter ausfallen durfte als am Vorabend, aber nie kitschig war. Auch hier stammten die Kostüme von Dorothée Roqueplo; sie ließ das Volk in Schwarz-Weiß, dessen Überwacher ganz in Schwarz, Altoum ganz in Gold, Timur in Grau, Liù mit einer Art Turban mit Schleier, Calaf aber in einem bürgerlichen Anzug mit Gilet auftreten (dessen Interpreten die Persönlichkeit fehlte, um diesem Manko abzuhelfen). Die Bewegungen des von Rafal Wiecha einstudierten, stimmlich imposanten Chors waren ebenso überzeugend choreographiert wie das bestens in die Handlung integrierte Ballett (Joshua Legge, Gintautas Potockas). Besonderes Gewicht kam hier der Lichtregie (Bogumil Palewicz) zu, die immer wieder beeindruckende Effekte erzielte, aber wenn – wie in einer Szene des 1. Akts – auf intensive Beleuchtung verzichtet wurde, stand der Wald mit seiner märchenhaften Stimmung im Mittelpunkt.
Am Pult stand die ukrainisch-kanadische Dirigentin Keri-Lynn Wilson, die für die Gründung des Ukrainan Free Orchestra bestimmend war. Dieses besteht aus ukrainischen Musikern, die nicht nur direkt aus der Ukraine kommen, sondern auch aus ukrainischen Mitgliedern europäischer Orchester (Concertgebouw und viele andere). Eine Verteidigung ihrer Heimat mit künstlerischen Mitteln, die hervorragend funktioniert, denn das musikalische Niveau des Orchesters war bestechend.
Die Ukrainerin Liudmyla Monastyrska in der Titelrolle wusste die hervorragende Akustik zu nutzen; ihr machtvoller Sopran verfügte auch über weiche Töne, die ihr die Möglichkeit gaben, ihre Furcht vor der Annäherung des Fremden Prinzen zum Ausdruck zu bringen. Eine auch interpretatorisch runde Leistung. In Hinsicht auf die verlangten dramatischen Spitzentöne war der Deutschbrasilianer Martin Muehle eine sichere Bank und hielt die Rolle des Calaf mühelos durch, aber bezüglich sowohl gesanglicher Expressivität als auch Mienenspiel blieben Wünsche offen. Izabela Matula war eine gesanglich gute, aber nicht exzeptionelle Liù, deren Timbre wenig in Erinnerung blieb. Rafal Siwek lag der Timur stimmlich besser als der Daland am Vorabend. Als sehr interessant erwies sich die Gestaltung der drei Minister, zum Teil in glitzernden Röcken mit queerem Einschlag, in deren Auftreten ich die große polnische Schauspieltradition zu erkennen glaubte. Stimmlich am kraftvollsten war Tomasz Rak (Ping), aber Aleksander Zuchowicz (Pang) und Mateusz Zajdel (Pong) standen ihm an Charakterisierungskunst in nichts nach. Kraftvoller als gewohnt klang auch der greise Altoum von Jacek Laszczkowski, Als Mandarin verströmte der aus Wien bekannte Stephano Park Wohlklang.
Fazit dieser Erfahrung: Die Atmosphäre der Waldoper ist etwas Einzigartiges, auf dessen Lorbeeren sich die künstlerische Leitung aber nicht ausruht, denn das künstlerische Niveau liegt zwischen hervorragend und ausgezeichnet. Ein Besuch ist absolut empfehlenswert.
Turandot
Giacomo Puccini
25. Juli 2024
Inszenierung: Waldemar Zawodziński
Musikalische Leitung: Keri-Lynn Wilson
Ukrainian Freedom Orchestra
Eva Pleus, 14. August 2024