Lübeck: „Letzte Lieder“, Stefan Weiller

© Isabel Machado Rios

Als Ausdruck einer persönlichen Krise schuf Karlheinz Stockhausen 1968 eine Sammlung von 15 Textkompositionen, die er „Aus den sieben Tagen“ nannte. Den Begriff der „Intuitiven Musik“ aus dem Jazz der 50er Jahre brachte Stockhausen nach Deutschland und macht ihn zum innovativen Kennzeichen des neuen Selbstverständnisses einer jungen Musikergeneration. Dem Eingangsstück, „Richtige Dauern“, liegt eine Anweisung Komponisten zugrunde: „Spiele einen Ton. Spiele ihn solange, bis du spürst, daß du aufhören sollst. […] Ob du aber spielst oder aufhörst: höre immer den anderen zu. Spiele am besten, wenn Menschen zuhören. Probe nicht.“

Mit aus diesen Anweisungen entwachsenen Klängen, mal dissonant, mal sphärisch-schwebend, mal pfeifend, klagend oder unruhig oszillierend, begann ein besonderer Abend im wenige Tage zuvor eröffneten Kolumbarium DIE EICHE an der Untertrave in Lübeck. Im alten Kornspeicher der Familie Mann, auf dessen Dachboden schon Thomas und Heinrich Mann als Buben herumturnten, befindet sich nach jahrelangem Ringen mit den Behörden ein Urnenfriedhof für Verstorbene jeder Glaubensrichtung oder Überzeugung – innenarchitektonisch glanzvoll gestaltet, vereinen sich hier in Schönheit die individuell gestalteten Urnen, ausgewählte Kunstobjekte und eine vielfältige Bibliothek. DIE EICHE wird, abgesehen von der Betreuung im Rahmen von Bestattungen, auch Veranstaltungsort mit Konzerten, Lesungen und Tagungen sein, eben ein Ort, an dem „Menschen zuhören“.

© Isabel Machado Rios

„Letzte Lieder“ des Autors und Regisseurs Stefan Weiller machte den Anfang, wobei es überhaupt nicht um das Spätwerk von Richard Strauss ging. In der von Charlotte Garraway inszenierten Produktion (Dramaturgie Cornelia von Schwerin, Kostüme Ramona Rauchbach), die von Mitgliedern des Theater Lübeck (Schauspiel) in der Halle und auf der ersten Etage des Gebäudes mit der wuchtigen Balkenkonstruktion aufgeführt wurde, strukturieren Werke klassischer Musik und Popsongs Texte aus Gesprächen, die Weiller mit Menschen in Palliativstationen und Hospizeinrichtungen geführt hat. In diesen sehr persönlichen Berichten, Dialogen, Rückblicken und Reflexionen lassen Menschen auf dem letzten Abschnitt ihres Lebens tief in ihre Ängste, Hoffnungen und Wut, ihren Schmerz oder ihre Resignation blicken; es tun sich Möglichkeiten zur Aussöhnung und aufrichtigen Bekenntnissen auf. Die Liebe und die Lebensfreude stehen entweder der Trauer und der Depression gegenüber oder vermengen sich so, wie das eben im Leben ist. Ein Leben, das hier als absehbar endlich wahrgenommen wird.

Es gibt viele starke Sätze in diesem Stück, die beim Hören mitunter innere Erschütterungen auslösen, wie „die Erinnerung kann ein Minenfeld der Trauer sein“. Man stellt sich die Frage, was Erinnern während der Trauerarbeit bewirken kann und wann sie zu einem Festhalten am Vergangenen wird, das ein endgültiges Loslassen erschwert. „Ich will den Tod nicht, aber ich nehme ihn an“ – solche Sätze, mit größtem Ernst von Luisa Böse gesprochen, treffen ins Innere und wirken nach. Niemand kann sich solcher Unmittelbarkeit entziehen und so waren im nur teils abgedunkelten Raum bei einigen im Publikum auf den ehemaligen Bänken einer alten Kirche Tränen der Ergriffenheit zu sehen.

© Isabel Machado Rios

Solch harte Kost ist nur erträglich, wenn sie ironisch und humorig gebrochen wird, und das schaffte vor allem Andreas Hutzel mit seinen wunderbaren Parodien der Registerarie aus Mozarts „Don Giovanni“ oder Udo Lindenbergs. Lachen und Weinen lagen da ebenso nahe beieinander wie auf einer gelungenen Trauerfeier – ja, ein solches Abschiednehmen kann in Gemeinschaft tatsächlich „gelingen“, wenn es möglich ist, sich miteinander dankbar an lustige Momente zu erinnern, wie eben auch zusammen zu trauern.

Johannes Merz übernahm die Rolle eines Conférenciers, der mit einer Mischung aus Eleganz und ironischer Überhöhung zwischendurch auch Kuchen reichte. Blumen wurden zum Ende hin diskret verteilt. Solche Ideen schaffen eine wunderbare Nähe zwischen Publikum und den Mitwirkenden, damit dem ganzen Geschehen. Luisa Böse und Johannes Merz waren übrigens vor Kurzem im ausgezeichneten Lübecker „Peer Gynt“ zu erleben (unsere Kritik).

Anna-Lena Hitzfeld verlieh mit ebensoviel aufgeladener Lebenslust wie mit wütenden Ausbrüchen den durchweg nur mit Vornamen und Alter benannten Menschen auf der Zielgerade eindrucksvoll und sehr persönlich Stimme, Henning Sembritzki beeindruckte vor allem durch nachdenkliche Töne undbegleitete sich, wie auch die anderen Akteure, immer wieder auf der Gitarre.

© Isabel Machado Rios

Peter Imig sorgte von der Empore herab als Multitalent auf Geige, Baß, Gitarre und Celesta für den musikalischen Hintergrund. Hintergründig im tiefsten Wortsinne geriet beispielsweise das metaphorische Zitat der Olympia-Rolle und ihrer berühmten Arie in Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“, denn die von anderen gesteuerte Puppe wurde mit Menschen assoziiert, die die Gewalt über sich verloren und ihre Autarkie zwangsläufig an die Medizintechnik abgegeben haben.

Leonard Cohens berühmtes „Hallelujah“ hat tatsächlich auch mittlerweile den Weg in Trauerfeiern gefunden, denn der melancholische Tiefgang von Cohens Werk greift gerade die Grenzsituationen menschlicher Existenz auf. Sein „Suzanne“ sangen die Darsteller auf deutsch, was dem angepaßten Text eine starke Unmittelbarkeit verlieh.

„Letzte Lieder“ fragt auch, welches Lied man sich für seine eigene Bestattung wünschen mag oder wer solche Lieder als Hinterbliebener aussuchen kann. In welchen Liedern oder Musikstücken finden sich Menschen wieder? Vor dem Hintergrund dieser Frage erklangen auch David Bowies „Major Tom“, „Smells like Teen Spirit“ von Nirvana oder, in bewußt alberner Überspitzung quirliger Lebensfreude, das Lied „Around the World“ von der Gruppe ATC.

© Isabel Machado Rios

Was bleibt, wenn die Musik verstummt? „Leben – das ist die schönste Musik“, hieß es am Ende, und darauffolgend, „Das Schönste ist die Stille – wenn man sie aushält“. Schließlich war nur noch das sanfte Plätschern von Wassertropfen zu hören. Eine klare, reine Lebensmetaphorik, die keine Worte mehr benötigt.

Für einen sehr sensiblen, humorvollen, anrührenden und in aller Vielschichtigkeit gelungenen Theaterabend bedankte sich das Publikum mit langanhaltendem Beifall bei den Darstellern und dem Regieteam.

Andreas Ströbl, 14. April 2024


Letzte Lieder
Schauspiel mit Musik von Stefan Weiller.
Eine Co-Produktion mit dem Theater Lübeck

Kolumbarium DIE EICHE, Lübeck

Premiere am 12. April 2024

Inszenierung: Charlotte Garraway
Musikalische Leitung und Musik: Peter Imig

Nächste Vorstellungen: 21. April, 9., 18. und 25. Mai