Lübeck, Konzert: „Peer Gynt“, 6. Symphoniekonzert

© Der Opernfreund / Stroebl

Seien wir ehrlich – die meisten Stücke aus Edvard Griegs Bühnenmusik zu Henrik Ibsens dramatischem Gedicht kennt jeder nicht nur auswendig, sondern man hat sich an Vielem auch sattgehört. Von der Kaffeereklame aus den 70ern über Kinder-Märchenplatten bis zu zahlreichen Filmen – die Klänge aus der Halle des Bergkönigs oder der Morgenstimmung sind omnipräsent; letztere hört man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit jeden Samstagmorgen auf NDR Kultur. Aber wann führt mal jemand das ganze Stück auf, mit Sprechtext, Choreinlagen und vor allem den fast nie gespielten anderen Instrumentalstücken?

In Lübeck konnte man das konzertant erleben, denn „Peer Gynt“ war einziger Programmpunkt des 6. Symphoniekonzerts in der dortigen Musik- und Kongreßhalle am 17. und 18. März. Die Produktion war ein Gemeinschaftsprojekt von Musik- und Sprechtheater, was das Ganze ungemein lebendig und unmittelbar machte. Unter der Leitung des estnischen Dirigenten Hendrik Vestmann spielte das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck Griegs Musik ebenso romantisch-seelenvoll wie mit phantastischem Einsatz, der vor allem in den Fortissimo-Stellen die Schauspielmusik zu einem eigenen klangbildmächtigen Akteur machte. Die Soloinstrumente wie Geige, Viola, Flöte oder Englischhorn kamen kristallklar zur Geltung, das Blech war so kraftvoll und präsent, daß manche Stellen der so oft gespielten Musik nun wie beim ersten Hören erstrahlten, was jeglichen Staub der vergangenen Jahrzehnte mit frischem Fjordwind fortblies.

Das Volkstümlich-Tänzerische der norwegischen Stubenmusik füllte der Erste Geiger Khristian Artamonov durch mit Fußtakt-Klopfen begleitetes Spiel mit Leben; man roch förmlich die Holzdielen und das herbe Bier. Die Viola von Elisabeth Fricker sorgte für die notwendigen lyrischen Momente – passend zur Ausrichtung der Musik Griegs, der sich selbst als „deutschen Romantiker“ bezeichnete.

Wie saftig-derb, ja teilweise obszön das Stück stellenweise ist, und um was für einen miesen, egomanen Hochstapler und Aufschneider es sich bei diesem Peer Gynt handelt, erfährt man tatsächlich erst durch Ibsens Text. Es wird auch dann erst klar, daß sich der Blick bei der „Morgenstimmung“ nicht auf einen Fjord mit grünen Tannen und glitzerndem Wasser richtet, sondern daß die Sonne hier die marokkanische Wüste bestrahlt, die im Frühlicht rotgolden aufleuchtet.

Den fragwürdigen Titelhelden gab Johannes Merz, der die naßforsche, selbstgefällige Natur des Bauernsohnes, hauptberuflich Taugenichts, plastisch erlebbar machte. „Was ich kann, kann keiner!“, prahlt er. Peers Mutter Aase war Susanne Höhne, die der sorgengeplagten Frau eine mütterlich-anteilnehmende Stimme verlieh. Die aus dem Fernsehen bekannte Schauspielerin Luisa Böse trat als geraubte Braut Ingrid, Trollprinzessin und Anitra auf, zuerst in jugendlicher Mädchenblüte, dann mit lustigem Trollgrunzen, schließlich mit dem Wechsel von Servilität zu frecher Selbstbehauptung. Sie und Merz hatten auch zwei kleine Lied-Einlagen, die sie mit erfrischender natürlicher Singstimme wiedergaben. Erzähler und Trollkönig war Heiner Kock, der letzteren mit herrlicher Rauheit und gurgelndem Lachen greifbar machte. All das geschah mit fröhlichem Humor, pointierten Ausrufen, gelinder Aktualisierung der gut artikulierten Sprache und so vielen ironischen Brechungen, daß jegliche Nähe zum Pathos fernlag.

Einzige Profi-Sängerin war Evmorfia Metaxaki als Solveig, deren klarer, warmer Sopran zeitweise von den Emporen durch den Saal strahlte.

Kraftvoll und mit dem Orchester synchron sangen der Chor und Extrachor des Theaters Lübeck unter Jan-Michael Krüger – Tutti und solistische Einlagen verliehen dem Ganzen eine märchenhafte Buntheit und, im Falle der grollenden Trolle, eine gefährliche Bedrohlichkeit.

Beim Schiffbruch gischteten die Wogen in den Saal, eine geheimnisvoll-gespenstische Unruhe schimmerte in der Nachtszene auf und mancher Choreinsatz erinnerte daran, daß Grieg in Wagners Heimatstadt Leipzig studiert hatte.

Was für ein anregender, überraschender Abend mit vielen Glanzpunkten – und dies mit einem Stück, das man zu kennen glaubt, welches aber voller zu Unrecht übersehener Schätze steckt! Das Publikum, darunter offenbar viele Musikhochschüler und einige Schulklassen, war begeistert und entließ die Mitwirkenden erst nach vielen Vorhängen.

Andreas Ströbl, 20. März 2024


Lübeck
Musik- und Kongreßhalle

6. Symphoniekonzert

Edvard Grieg, Peer Gynt
Schauspielmusik zu Ibsens dramatischem Gedicht op. 23

18. März 2024

Musikalische Leitung: Hendrik Vestmann
Chor und Extrachor des Theaters Lübeck
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck