Wagner, wie er wohl in Europa nicht mehr sein darf
Im Rahmen der 17. Jahrestreffens von Ópera Latinoamérica – OLA, dem Dachverband der lateinamerikanischen Opernhäuser mit assoziierten Compagnien in Spanien und Portugal, kam das ehrwürdige und schon 1857 gegründete Teatro Municipal von Santiago de Chile mit einer Neuinszenierung des „Fliegenden Holländer“ von Richard Wagner heraus. Der argentinische Regisseur Marcelo Lombardero, der selbst Opernsänger war und auch den Holländer gesungen hat, legte das Stück in den Bühnenbildern von Noelia González Svoboda und den Kostümen von Luciana Gutman als eine intensive Seemanns-Story an, auch im Hinblick auf Tatsache, dass das Meer in Geschichte und Mythologie Chiles eine große und stets präsente Rolle spielt. Immerhin hat das Land auf seiner gesamten Nord-Südausdehnung eine 4.500km lange Küste mit dem Pazifik.
So assoziierte Lombardero die Geschichte des fliegenden Holländer mit einem Geisterschiff, das in der Mythologie der Insel Chiloé im Süden des Landes eine wichtige Rolle spielt. Die sog. Caleuche ist ein schönes, leuchtendes Segelschiff, das andere Schiffe anlockt wie in der griechischen Mythologie die Sirenen Odysseus. Das Schiff ist wie das des Wagnerschen Holländer übermächtig und in der Lage, sich Angriffen zu entziehen, gegen den Wind zu segeln oder sogar unter die Wasseroberfläche abzutauchen. Gesteuert wird es von singenden und tanzenden Brujos, also Hexern, die in der Mythologie von Chiloé über schwarzmagische Kräfte verfügen und rechtschaffende Chiloten ins Unglück stürzen wollen. Also eine nahezu perfekte Assoziation mit den Matrosen des Holländer, die der Regisseur wirkmächtig bei roter Beleuchtung (stets stimmungsverstärkend José Luis Fioruccio) des ganzen Bühnenraums und hochpeitschenden Wellen des Meeres auf den oberen Proszeniumslogen singen lässt, und den braven Norwegern auf der Bühne. Für die gut gewählten Videos war Gisele Hauscarriaga verantwortlich.
Wendy Bryn Harmer gab eine ganz exzellente und äußerst engagierte Senta, ständig verzweifelt mit dem düsteren Bild des Holländers in den Armen wie damals Lisbeth Balslev in der Bayreuther Kupfer-Inszenierung, mit noch überzeugenderer gesanglicher Leistung in der 1. Reprise als in der Premiere. Sie meisterte die erforderlichen Spitzentöne und hat auch eine gute klangvolle Mittellage. Ryan McKinny war als Holländer eingesprungen, nachdem der ursprünglich vorgesehene Olafur Sigurdarson von der Mailänder Scala als Alberich für das „Rheingold“ gerufen wurde. In dieser Rolle kann ich ihn mir allerdings auch viel besser vorstellen als mit dem heldenbaritonalen Holländer. McKinny verfügt über ein schönes Timbre. Es mangelt aber für den Holländer an Volumen und in dieser speziellen Inszenierung auch an Dämonie, vor allem im Finale. Darstellerisch hätte man auch etwas mehr Engagement gewünscht.
Vazgen Gazaryan gab einen authentischen Daland mit kraftvoller Stimme und seemännischem Duktus. Er spielt in einem starken Auftritt gleich zu Beginn des Vorspiels eine negative Rolle. Man sieht, wie seine Frau der kleinen Senta aus einem Buch vorliest. Dann geht man zum Essen, wobei Daland fast gewaltsam auf seine Frau losgeht. Auch das kleine Mädchen kommt nicht gut davon und flieht mit der Mutter. Hier entwickelt sich also schon früh ihr späterer Entschluss, diese Welt für immer zu verlassen. Eine durchaus sinnvolle Teilinszenierung des Vorspiels, das dann aber gleich wieder mit Meeres- und Wellen-Assoziationen weitergeht.
Evelyn Ramírez war eine klangvolle und bestimmte sowie bestimmende Mary. Alec Carlson sang den Erik mit einer schönen und sicher geführten Tenorstimme, die aber mehr ins Mozartfach neigt und für den Erik zu klein ist. Nicolás Noguchi gab einen guten und umtriebigen Steuermann.
Alejo Pérez dirigierte das Philharmonische Orchester von Santiago mit flüssigen Tempi sehr engagiert bei guter Führung der Sänger. Er konnte auch den erstklassigen Chor des Teatro Municipal bestens animieren und zu großer sängerischer Intensität anleiten. Der Klang des Orchesters im Saal wirkte allerdings etwas gedämpft. Da wäre mehr Prägnanz wünschenswert gewesen. Insgesamt aber war es eine starke Interpretation des „Fliegenden Holländer“, die am Schluss sogar noch eine emotional ergreifende Verklärung der Senta in den Fluten des Meeres bot. Das war eine stimmige Folge ihrer überaus emphatischen Darstellung der Frau, die dem Holländer zuvor Treue bis zum Tod versprochen hatte, wie auch ihres spektakulären Sprungs ins Meer vor den fassungslosen Augen Dalands und seiner Leute – ein durchaus auch ergreifendes Ende! Nördlich der Alpen würde so etwas wohl nicht mehr gehen und von der vermeintlich unumgänglichen Suche der mit pseudo-intellektueller Neudeutung oder gar -lesung befassten Kritiker-Elite wohl im Ansatz verrissen.
Macht man sich eigentlich einmal den Gedanken, was das Publikum schätzen würde?! In Santiago brach vor vollem Haus, kaum dass der Vorgang gefallen war, ein Jubelsturm los, der klar machte, dass eine solche Inszenierung hier große Anerkennung oder gar mehr findet. Denn sie ist nicht zuletzt schlüssig und ihre Dramaturgie vollkommen nachvollziehbar. Muss man also mittlerweile also schon über 12.000 km weit fliegen, um einen Wagner zu erleben, wie er – auch unter Einbeziehung nationaler Traditionen und Mythen und der ursprünglich auf Heinrich Heine zurückgehenden Story sowie auf eine stürmische Überfahrt der Wagners von Pillau nach London in den Gedanken des Komponisten reifte?! Es ist an der Zeit, dass man auch in näherliegenden Opernhäusern langsam an ein Zurückführen des bisweilen völlig aus dem Ruder laufenden Wagnerschen Regietheaters denkt. Die Mailänder Scala hat kürzlich mit ihrem neuen „Rheingold“ gezeigt, dass es geht.
Klaus Billand, 25. November 2024
Der fliegende Holländer
Richard Wagner
Teatro Municipal Santiago de Chile
Besuchte Vorstellungen: 17. (Pr.) und 20. November 2024
Inszenierung: Marcelo Lombardero
Musikalische Leitung: Alejo Pérez
Orchesta del Teatro Municipal