Romantisierende Bildnisse der schönen Wasserleiche liefert die Kunstgeschichte zuhauf. Eine Frau, die sündig geworden durch Sex oder nur Gedanken an ihn, sucht Reinigung durch ihren Freitod im Wasser. Zurück in die Unschuld. In den Uterus. Shakespeare setzte in seinem „Hamlet“ den Ophelias dieser Welt ein zeitloses Denkmal. Florentina Holzinger hat ihren ganz eigenen Blick auf Körper, Geist und Seele ihrer Ophelias.
Das Tanzquartier Wien zeigte als österreichische Erstaufführung das im September letzten Jahres an der Berliner Volksbühne uraufgeführte Stück in Kooperation mit dem Volkstheater Wien, das sich den Herausforderungen der von Nikola Knežević entworfenen Bühne, die mit drei Becken mit zehntausenden Litern Wasser, einschwebendem Helikopter, offenem Feuer und vielen weiteren Show-Elementen formuliert wurden, vollkommen gewachsen erwies. Wie auch dem zu erwarten gewesenen großen Publikums-Interesse an der bildgewaltigen, knapp dreistündigen Holzingerschen Nummern-Revue.
Der Pirat Captain Hook, auf den zwei Screens wird gezeigt, wie er mit dem Heli einfliegt, entert die Bühne vom Balkon aus. Annina Machaz brilliert vom ersten Moment an in der Rolle des rauen Kerls mit weichem Kern. Hook stellt, dem US-amerikanischen Vorbild gleich, die Jury der Talente-Show vor. Die drei Frauen entsteigen draußen (auf den Screens zu sehen) der Strech-Limo. Sie sind nackt, wie alle Kandidatinnen auch, die ihre Geschichten und Talente den breitbasig gefühligen TV-JurorInnen-Karrikaturen präsentieren.
Princess Tweedle Needle, kaum eine Hautpartie an ihr ist nicht tätowiert, hat ihre nach Herzensbrüchen gesammelten Tränen im Koffer mitgebracht und hängt sie sich im Plastik-Kübel an ihre gepiercten Ohren und Schamlippen. Schocking die Erste. Eine an Trisomie Erkrankte singt „Ich war noch niemals in New York“ und tanzt mit dem Regenschirm, nur nicht ganz so gut wie einst Kelly.
In Ketten und mit Halsreif gefesselt, Melody Alia ist mit ihrer Live-Cam immer nah am Geschehen, versucht Netti Nüganen als Entfesselungskünstlerin und Apnoe-Taucherin im wassergefüllten Glastank ihre Befreiung. Die selbst und von anderen Frauen angelegten Fesseln zu öffnen gelingt. Der Halsreif, wie der Würgegriff des Patriarchats, will sich nicht öffnen lassen mit der Haarnadel aus dem Publikum. Die Holzinger selbst rettet sie, hinzugeeilte Bühnen-Techniker helfen. Hochspannung mit inszenierter Panne. Unter dem Thrill liegt bittere Metapher.
„Geschichten von der See“. Was man von Wasser lernen sollte: Ruhe, Gewalt, Heilung, Reflexion, Schwerelosigkeit. „Tod ist Wasser. Ein wunderbar narzisstisches Element.“ Mit dem Sprung der vier ins Schwimmbecken tauchen sie in philosophisch-psychologische Tiefen. Ozeanisches Gefühl. Endlosigkeit, Ewigkeit, Eins-Sein mit der externen Welt. Schuberts „Forelle“ singen sie zu Live-Harfe und -Cello. „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten.“ „Du bist intakt. Ein Juwel im Wasser!“
Hook rekrutiert furzend und rülpsend 6 Kinder vom Balkon in seine Crew. Die halten den Erwachsenen Spiegel vor, während hinten drei Nixen Unterwasser-Ästhetik präsentieren. Dann wirft Hook seinen Flachmann ins Wasser. Eine Dame aus dem Publikum versucht ihn zu finden. Schillers „Der Taucher“ wird rezitiert.
Xana Novais bohrt sich einen großen Haken durch die Wange, es schmerzt sie hörbar, das Blut tropft, die Live-Cam auch hier nah dran. Selbstverletzung und -Verstümmelung, Autoaggression als Selbstbestrafung. Veröffentlichte konsolidierte Schuldgefühle. Eine der vielen mutigen Szenen. Die Schilderung ihrer Vergewaltigung durch einen Tätowierer mit der Kamera dicht vor ihrem Gesicht ist eine der berührendsten Szenen der Arbeit. Sie liegt dabei wie eine Ophelia im Wasser. Gesündigt hat nicht sie. Das Unreine aber in ihr waschen keine Wasser ab. Die schon in der griechischen Mythologie verankerte Unterdrückung, Entrechtung und Vergewaltigung von Frauen, die durch Kunst, Kultur und die Gesellschaft zu allen Zeiten legitimierte Gewalt gegen Frauen und gleichzeitig die Rechtfertigung des Patriarchats führen in gerader Linie bis ins Jetzt. Die Vergewaltigung durch den Tätowierer und in einer anderen Szene Ledas durch den Schwan stehen für die weltweite und Religionen überspannende, für die in die geistig-moralischen und kulturellen Fundamente dieser Welt einzementierte Entrechtung der Frau. Der Kampf der iranischen Frauen zeugt von der beklemmenden Aktualität des Stückes auch außerhalb Europas.
Einer aus dem Publikum geholten Frau wird live ein kleiner Anker aufs Gesäß tätowiert, während hoch oben Sophie Duncan an einem riesigen Anker kraftvolle Pole-Dance-Artistik zeigt. Mit dem „Sailor Dance“ zeigen Florentina Holzinger ihre Klasse als Choreographin und das Ensemble seine Vielseitigkeit. In Teilen von Matrosen-Uniformen werden russische Volkstänze a la Kasatschok lustvoll auf ganz männliche Weise getanzt. Im Funkenstrahl der Flex. Zwischenapplaus. Und wenn sie dann betrunken und nur mit Matrosen-Kappe und vielleicht einem weißen Hemdchen bekleidet „What shall we do with the drunken sailor?“ grölen und in eine zünftige Schlägerei driften, nicht nur die auf der Bühne amüsieren sich köstlich, drehen sie die Spieße um und scheren sich nicht um Zuschreibungs- oder Aneignungs-Geschwafel. Holzinger verflüssigt geschlechts-identitäre Pole, lässt sie miteinander reagieren und formuliert so eine Utopie von einer post-feministischen Welt.
Ein Sturm aus der Windmaschine beutelt die Matrosen heftig. Sie entern zu fünft einen in den Nebel herabschwebenden Helikopter, begatten ihn artistisch, das Sperma fällt in dicken weißen Schnüren in das Schwimmbecken. Der Heli, Symbol sich transzendierender Männlichkeit, folgt. Die Pilotin, die Kleinwüchsige Saioa Alvarez Ruiz, wird höchst schwanger und mit Fischschwanz aus dem abgestürzten Hubschrauber geholt.
Hooks Vater war ein Alkoholiker „mit einem Loch in der Seele“. Eine andere war magersüchtig mit der „Sehnsucht nach der eigenen Zerstörung“. Die Kinder planschen zu „Atemlos“. Blut im Becken. Geschrei. Mit dem Messer schlitzt frau der Pilotin den Bauch auf, entbindet blutig irgendetwas schleimig Langes. Und ein Feuerzeug. Unter den Augen der Live-Cam. Plastikflaschen regnen, die Kinder verräumen sie ein wenig. Und tanzen zu Ed Sheeran. Süß. Die ökologischen Bedrohungen der Zukunft der Kinder packt die Regisseurin auch noch hinein. Die Kleinste singt entzückend vom Fluss ins Meer. „Warum?“ fragt elektronisch verfremdet die Jurorin. „Weil das Wasser das Blut der Erde ist.“ Die Kinder fangen Hook im Netz, hinten schwimmen Nymphen in blutigem Wasser.
„Ophelia’s Got Talent“ ist eine rauschhafte Flut von Bildern, die in ihrer Drastik amüsieren und schockieren, faszinieren und erschrecken, anrühren und abstoßen, die einnehmen und eindringen. Die live auf den beiden Screens präsentierten Nahaufnahmen überwinden auch die letzte Distanziertheit. Zwischen Voyeurismus und Empathie platziert Holzinger das Publikum, packt es bei seinen Ängsten, Trieben und Lüsten. Das zeitweise Unbehagen wächst aus der Überschreitung von Grenzen, denen des im Theater Machbaren und den tief in uns gezogenen, die unter lärmenden Oberflächen lauerndes Unheil im Zaume halten sollen.
Das ausschließlich weibliche Ensemble, das multidisziplinär, inklusiv und altersdivers lustvoll und spielerisch ein bildgewaltiges Spektakel aus Theater, Musical, Live-Musik von Harfe und Cello, Gesang, Zirkus, Artistik und Slapstick auf die Bühne bringt, agiert handwerklich großartig. Skurril, schrill, äußerst humorvoll, gewalttätig, blutig, trashig, immer fürsorglich. Das Lichtdesign stammt von Anne Meeussen, das Sounddesign von Stefan Schneider.
Mit ihren zahlreichen Verweisen auf die Romantik (Nymphen, Melusinen, Sirenen, Undinen) – und die ihr zugeschriebene Lieblichkeit – in sie offenbar konterkarierender Form bricht Florentina Holzinger diese weniger, als dass sie aufs Eigentliche, das Gewalttätige darin, hinweist. Das Thema der Meerjungfrau, der Frau mit Fisch-Unterleib, verführerisch, nach Erlösung durch einen Mann suchend und entsexualisiert zugleich, zieht sich durch die ganze Performance. Toxischer Männlichkeit, Männerfantasien, männlichen Stereotypen, patriarchalen, kulturellen und christlich-religiösen Einschreibungen in Männer und Frauen begegnet Holzinger mit paradoxer Intervention als Werkzeug zur Bewusstmachung.
Wie eine Erlösung kommt am Ende die kurze Party, mit der sie alle, so jung noch und etwas älter schon, diese großartige Arbeit, ihre Leistung auf der Bühne, ihre kraftvolle Weiblichkeit, ihr mutiges Frau-Sein, ihre Gemeinschaft und den kommenden Untergang des Patriarchats feiern. Und vor allem ihre Selbstermächtigung. Ein begeistertes Publikum feiert mit.
Rando Hannemann, 24. April 2023
Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online (Wien)
Florentina Holzingers
„Ophelia’s Got Talent“
19. April 2023
Tanzquartier im Volkstheater Wien