Mannheim: „Die Zauberflöte“

Gastspiel der Komischen Oper Berlin im Rahmen des Mannheimer Mozart-Sommers
Aufführung am 15.07.2014

Ein bejubelter Markstein in der Zauberflöten-Rezeption

Die Zauberflöte ist die weltweit meistgespielte Oper in deutscher Sprache, wahrscheinlich das meistgespielte Stück in deutscher Sprache überhaupt. (In Deutschland selbst gebührt dieser Titel allerdings Humperdincks “Hänsel und Gretel“.) Tausende von Malen ist das Werk inszeniert worden. Auch bis in die Jetztzeit nicht abreißend immer wieder als Zauber- oder Märchenoper für Kinder und Greise, aber auch zunehmend von Regisseuren, denen dazu nichts mehr einfiel, als Psychologie- oder Gesellschaftsstück oder gleich ganz dekonstruiert. Der Regisseur Barrie Kosky, auch Intendant der Komischen Oper in Berlin, hat für sich noch nie eine wiederkehrende Regiemasche entwickelt, sondern nimmt sich seiner Stücke immer von einer anderen Seite an. Er macht völlig abstrakte Arbeiten, von ausgelassener komödiantischer Fantasie sprudelnde Inszenierungen, aber auch provokante Produktionen. Da konnte man sehr gespannt sein, wie er mit seiner Co-Regisseurin Suzanne Andrade von der englischen Theatergruppe 1927 (www.19-27.co.uk/) an die Zauberflöte herangehen würde. Denn eine neue Zauberflöte ist heute – zumindest im deutschsprachigen Raum – immer ein Wagnis.

Kosky und Andrade haben in ihre Zauberflöte äußerlich Elemente der Zwanziger Jahre einfließen lassen und in der Ästhetik des Stummfilms inszeniert und dabei ganz moderne surrealistische Effekte und Fantasy-Elemente eingemischt. Eine Bühne im eigentlichen Sinne gibt es daher nicht; nur eine riesige bühnengroße Projektionswand mit Drehtüren oben und in bis über drei Meter Höhe, in welchen die Protagonisten hereingedreht werden. Somit gibt es auch keine klassische Bewegungsregie, denn die Akteure sind jeweils in diesem zweidimensionalen Bild fixiert. An deren Mimik und Gestik werden dementsprechend erhöhte Anforderungen gestellt. Und noch höhere Anforderungen an die Interaktion der Darsteller mit den sie umgebenden Animationen, in die sie eingebunden sind. Das muss räumlich und zeitlich genau stimmen, damit der Effekt nicht verloren geht. Daher ist der Einsatz der Protagonisten ganz nah an der Projektionswand erforderlich, damit dem Zuschauer nicht durch das Entstehen von Parallaxen die Illusion genommen wird. Technisch wirkt das frontal alles ganz einfach; aber die Einstudierung der Oper hat fast die doppelte Probenzeit wie üblich benötigt.

In der Ästhetik des Stummfilms also, aber nicht als Stummfilm mit Gesang. Filmische Elemente in der Oper und Opernheroinen und –heroen im Film: ein Gesamtkunstwerk. Da passen natürlich die ausufernden Schikaneder-Dialoge nicht, die zudem heute ohnehin nicht mehr sehr geschätzt sind, so dass mancher Zauberflötenregisseur sie in Ermangelung von etwas besseren schon ersatzlos gestrichen hat. Kosky hat sie auch weggelassen, aber durch ganz erfrischende Zwischentitel-Projektionen – in Jugendstilmuster eingerahmt – ersetzt. Knapp und bündig wird so die Handlung mit Halbsätzen vorangetrieben. Wie im alten Kintopp kommt dazu natürlich eine Klavierbegleitung, aber nicht vom schrägen Otto, sondern von Bonnie Wagner, der zu den Titeltexten auf dem Hammerklavier zwei Moll-Fantasien (KV 397 und 475) von Mozart aus dessen gesellschaftlich glücklichsten Jahren in Wien intonierte. Diese gekonnte Lösung bewirkte ohne jeden Substanzverlust eine erfrischende Kürzung des Stücks von etwa 15 Minuten. Eine weitere Übertitelung unterblieb.

Aus gutem Grunde wurde als „Dialog-begleitende“ Musik nicht etwa eine Klaviertransposition der Maurerischen Trauermusik gegeben, die ja viel zeitnäher zur Entstehung der Zauberflöte liegt. Denn von diesen belehrenden und immer wieder in die Zauberflöte hineininterpretierten Elementen wollten Andrade und Kosky eben nichts wissen. Vielmehr schöpften sie bei der Zeichnung der Figuren aus dem Vollen der auch von Schikaneder gehobenen Volksmytholgie und Theatergeschichte und steckten sie nebenher noch in die Rollen von Stummfilmstereotypen bzw. Sarastro und die Eingeweihten in die 1927 obsolet wirkende Kleidung einer jüdischen Gelehrtengesellschaft der Jahrhundertwende Zylinder, Gehrock und Monokel. Was für ein Witz, dass die Eingeweihten die kecke Pamina (wie ein Charleston-Püppchen herausgemacht mit einem Pagenkopf à la Pola Negri) zwischenzeitlich in ein Tournürenkleid à la Cosima steckten. Überhaupt die Welt der Eingeweihten: Fantasietiere von einer Mechanik angetrieben, wie sie sich dr. Spalanzani hätte ausdenken können (alles Animationen!), aber auch (aus 1927er Sich) science-fiction-Technik; davon die gelungenste eine am Fließband arbeitende Hähnchen-Bratmaschine, mit dessen Produkt Papageno (trat auf wie Buster Keaton) sich sehr gerne genährt hätte… Im großen Denkkopf eines Eingeweihten erspäht man dann doch noch Moral: Weisheit, Wahrheit, Arbeit sind dort eingeschrieben. Ohne das geht es nun doch nicht. Die zu Inszenierung perfekt passenden Kostüme sind von Esther Bialas.

Viele der Regieeinfälle würden auch zu einem normalen dreidimensionalen Bühnengeschehen passen, aber mit wie viel größerer Leichtigkeit geht das auf dem Riesenschirm ab! Keine der Ideen verkommt zum Mätzchen, kein déjà vu und keine Provokation bei der Inszenierung, die letztlich mit vielen witzigen Zutaten immer ganz nah am Libretto bleibt. Die Animation steht ganz im Vordergrund und wird nicht wie häufig bei einem dreidimensionalen Bühnendesign zu einem lästigen Geflimmer im Hintergrund oder noch schlimmer auf einem Schleiervorhang vorne. Bei der Flut von Einfällen und Zitaten dieser Inszenierung kommt einem dann auch noch die Zauberflötenbekanntheit zugute. Man muss nicht immer bei jedem Takt genau hinhören, kann sich dem kreativen Bühnengeschehen zuwenden und indigniert sich nicht über die dauernden Lacher, die die Regie auf ihre Seite bringt, denn die Musik kennt man ja sowieso, Takt für Takt – und geht doch immer wieder hin.

Die musikalische Seite des Abends war indes auch weniger brillant als die szenische. Selten ist es geworden, dass man wie hier die Ouvertüre als reines Musikstück bei geschlossenem Vorhang hört. Die estnische Dirigentin Kristiina Poska stand dem Nationaltheaterorchester Mannheim sowie den Solisten und Chören der Komischen Oper vor. Da hat es doch noch das eine oder andere Mal in der Koordination zwischen Bühne und Graben gehakt, was wohl dem anderen Umfeld und begrenzter Probenzeit geschuldet ist. Mit dem Orchester allein wurde hingegen ein klarer transparenter und vielfach kammermusikalischer Ton getroffen, in welchen viele saubere Bläsersoli eingebettet waren. Als Zauberflöte hatte der Animateur eine Libelle vorgesehen; zu den guirlanden-ähnlichen Flötenmelodien zog dieses Insekt – wie ein Guirlande – den in Wellen wabernden Notentext hinter sich her, womit – ganz nebenbei – noch ein wesentliches Element der Inszenierung zur Geltung kam: nämlich die Harmonisierung von Bewegung (echt oder als Animation) mit der Musik. Die Chöre (Einstudierung: David Cavelius) wurden teilweise zugespielt. Da eine zweidimensionale Chorentfaltung schwierig ist, saß der Herrenchor zu Anfang in zwei halb erleuchteten Kästen an der Seitenwand vor der Bühne; beim Bühnenauftritt dann Aufzug im Gänsemarsch ganz eng am Schirm bis zum kurzen grandiosen Schlusschor.

Die Solisten agierten in den Türen des großen Schirms oder unmittelbar davor auf der Bühnenebene, aber auch auf winzigen Podesten in über drei Metern Höhe an der Wand. Zwar waren sie dort gesichert, aber das Singen bringt in dieser Exposition sicher mehr Anspannung. Dennoch gelang es den Solisten fast durchweg, diese Anspannung auszublenden. Mit Nicole Chevalier war eine warmtönige Pamina besetzt, deren Höhen indes etwas eng klangen. Auch Andreas Stroopers Tamino (wie ein Conférencier im Smoking) konnte in der Höhe nicht mit schönem Stimmsitz überzeugen, verfügte aber über eine gediegene bronzene Mittellage. Beate Ritter als Königin der Nacht brachte aus einer warmen, runden Mittellage ihre kalten, klaren und genau konturierten Koloraturen. Vielleicht war sie die einzige (ganz oben auf der Bühne über grässlichen riesigen Spinnenbeinen), die dabei etwas angespannt wirkte; ob wegen der fordernden Koloraturen oder der exponierten Positur, mag dahin gestellt sein. Mit Bogdan Talos, der in der Premiere noch einen Geharnischten gesungen hat, stand für den Sarastro (und zugleich den Sprecher)ein mächtiger Bass mit eleganten Höhen und überzeugenden sonoren Tiefen zur Verfügung.

Adela Zaharia gefiel stimmlich und darstellerisch als quicklebendige Papagena, die als Zirkusprinzessin zu verstehen war. Mit Peter Rens war ein ungewöhnlich dunkler Tenor als Monostatos besetzt. Das Terzett der drei Damen (Mirka Wagner, Theresa Kronthaler und Caran van Oijen) wirkte ausgesprochen stimmschön und homogen. Die drei Knaben stellte wieder einmal der Tölzer Knabenchor. (Julian Höflmaier, Toni Schäffler und Samuel Baur mit erstaunlicher Stimmfestigkeit)

Das Nationaltheater Mannheim hat (natürlich!) auch eine eigene Zauberflöte im Repertoire, scheute aber sich nicht, eine „Konkurrenzproduktion“ einzuladen und lag damit beim Publikum genau richtig. Zwar wurden nach der Pause einige wenige Plätze von Besuchern frei, denen das nicht so gut gefallen hatte, aber der übergroße Rest des vollen Hauses spendete begeisterten Beifall, was das Applaus-Management dazu bewegte, selbst bei hochgefahrenen Lichtreglern im Saal den Vorhang noch einmal aufzuziehen. Fazit: Jederzeit wieder!

Manfred Langer, 16.07.2014

Noch zur Produktion:

Der Name der Gruppe „1927“ bezieht sich auf die Jahreszahl, in welcher zum ersten Mal ein Tonfilm erschien. In dieser historischen Ästhetik hat die Gruppe ihr Theaterschaffen entwickelt und sich nun zum ersten Mal an einer Oper versucht. Kosky hat die Gruppe2008 kennengelernt, und in diesem Jahr wurde auch die Idee zur Zusammenarbeit bei einer Opernproduktion geboren. Fast fünf Jahre lang wurde geplant vorbereitet und gearbeitet, bis die Zauberflöte im November 2012 an der KO in Berlin herauskam. Allein eineinhalb Jahre wurden für die Herstellung der Video-Animationen benötigt. Paul Barritt hat diese mit durchaus künstlerischem Anspruch gestaltet und immer wieder angepasst; auch den vielen Gastspielen und Auslizenzierungen, die diese Produktion schon erfahren hat: sie war z. B. schon in Los Angeles zu sehen und ist nun auch zum Edinburgh Festival eingeladen. Ein weiterer Triumph für „Barrie“, unter dem die KO Berlin vom Magazin die Opernwelt zum Opernhaus des Jahres nominiert wurde, er selbst für die Auszeichnung vom seriöseren International Opera Award als bester Regisseur des Jahres nominiert und auch gewählt worden ist und ganz nebenher die Besucherzahlen im Haus an der Behrenstraße in Berlin um 20 % gesteigert hat.