Wien: „Proserpina“, Wolfgang Rihm

Gewaltige Herausforderung für einen Koloratursopran

Die Titelheldin von Rihms Kammeroper auf den ungekürzten Text des gleichnamigen Sturm- und Drang-Monodramas von Johann Wolfgang von Goethe, ist die römische Göttin Proserpina. Diese ist die Tochter von Jupiter und Ceres, der Göttin des Ackerbaus und der Fruchtbarkeit. Sie wird von Pluto in die Unterwelt entführt und vergewaltigt. Dort herrscht sie als Königin über die Toten. Der römische Polyhistor Marcus Terentius Varro (116.v.-27 v.Chr.) leitete ihren Namen von dem lateinischen Verbum proserpere (hervorkriechen) ab, was sich auf den aus der Erde, d.h. der Unterwelt, emporkriechenden Getreidekeim bezieht. Ceres aber erzwang nach Hyginus Mythographus, Genealogiae 146, Jupiters Einverständnis, dass ihre Tochter nur die Hälfte des Jahres in der Unterwelt verbringen müsse. Bei Goethe und ihm folgend bei Rihm endet die Oper aber damit, dass Proserpina für immer im Totenreich bleiben muss, weil sie gegen das Fastengesetz im Hades verstößt, indem sie einige Körner des Granatapfels isst. Von nun an erkennen die Parzen sie als eine der ihren an: „Und der Biß des Apfels macht dich unser! Königin, wir ehren dich!

Goethes Text von 1777 wurde seinerzeit bereits von Karl Siegmund von Seckendorff (1744-85) vertont. Rihms Kammeroper wurde nun am 2. Mai 2009 im Schlosstheater Schwetzingen uraufgeführt. Ausgehend von der Musik der Zweiten Wiener Schule (Schönberg, Webern), holte sich der Komponist zahlreiche Anregungen bei Wolfgang Fortner, Humphrey Searle, Karlheinz Stockhausen und Klaus Huber. In späteren Jahren erfolgte dann auch eine Rückbesinnung auf Gustav Mahler. Im Tamino-Klassikforum findet sich ein höchst interessanter Thread über Wolfgang Rihms musikalische Ausdrucksmittel (https://www.tamino-klassikforum.at/index.php?thread/8760-formen-des-ausdrucks-ausdruck-der-form-der-komponist-wolfgang-rihm/). Zweifellos zieht Rihms Musik das Publikum in einen hypnotischen Sog voller Sehnsucht, Aggression und traumatisch erlebter Ängste. Während der Text Goethes ein Wechselspiel zwischen Depression und Aggression zeigt, wirkt Rihms Klangsprache – nach Uwe Schweikert: Schönheitstrunken gegen die Wand. Rezension der Uraufführung. In: Opernwelt, Juli 2009, S. 8. – „klangsinnlicher, kantabler, aber auch artifizieller, selbstverliebter“.

Eine musikalische wie handlungsbezogene Nähe zu Schönbergs expressionistischem Monodrama „Erwartung“ ist naheliegend. Durch Proserpinas Biss in die verbotene Frucht verfällt sie dem Tod gleich ihrer Ahnherrin, der biblischen Eva, die ihrerseits die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis („erkennen“ bedeutet im Hebräischen „den Geschlechtsverkehr vollziehen“) verzehrt, wodurch sie für immer aus der paradiesischen Idylle vertrieben und unausweichlich dem Tod anheimfällt. Bei Rihm verschmelzen im „orgiastischen Stöhnen“ der Proserpina zu den Worten „Labend! labend!“, expressiv untermalt vom Kammerorchester, nach Schweikert „Liebes- und Todesermattung“ (aaO). Und nach dem Genuss der Frucht muss sich Proserpina eingestehen: „O verflucht die Früchte! Warum sind Früchte schön, wenn sie verdammen?“ Und auf all ihr Wehklagen antworten ihr die Parzen mit stoischer Ruhe: „Du bist unser“. Der Regisseurin Anna Bernreitner gelang unterstützt vom Bühnenbildteam Hannah Rosa Öllinger und Manfred Rainer ein äußerst spannender Theater Clou, indem sie das sogenannte „Theater der Aufzeichnung“ zum Einsatz brachten. Proserpina wird dabei in die Unterwelt des Orchestergrabens verbannt, und das Geschehen von mehreren Kameras auf eine große Leinwand, die vor dem Orchester aufgespannt wurde, übertragen. Das Publikum konnte der Aufführung somit nur aus der Sicht der für sie unsichtbaren Kamera folgen. In dieser Unterwelt ist alles grau, die Möbel, Bücher, die Küche, ein am Boden befindliches Wasserbecken und sogar der Granatapfelbaum.

Die leicht transparente Projektionswand ließ den Frauenchor der Parzen auf der linken Seite erkennen und auf der rechten Seite einige Musizierende. Die Aktionen der Proserpina wurden dem Publikum dadurch nur als Live-Video vorgeführt, wohingegen die klagende Stimme Proserpinas aus der Tiefe des Orchestergrabens, also aus Plutos Reich, zu uns Lebenden real emporstieg. Durch diesen Kunstgriff ließen sich an geeigneten Stellen auch Szenen wiederholen bzw. einblenden. Die texanische Sopranistin Rebecca Nelsen gestaltete diese an Emotionen so reiche Proserpina mit ihrem lyrischen Sopran, der aber bereits das Potential für das hochdramatische Fach erahnen lässt, packend und ohne zu ermüden. Der Wiener Kammerchor sorgte für die traurig vokalisierenden oder am Ende der Oper Proserpina als Königin und ihresgleichen anerkennende Parzen. Walter Kobéra leitete das amadeus ensemble-wien mit Umsicht durch Rihms anspruchsvolle, nuancenreiche, schillernde Partitur, in der Holz- (Flöte, Oboe, 2 Klarinetten, Fagott) und Blechbläser (zwei Hörner in F), Vibraphon, Schlagzeug, vier Cymbales antiques, zwei Röhrenglocken, tiefer Woodblock, drei hängende Becken, großes Tamtam, drei Bongos, kleine- und große Trommel, Harfe, zwei Violinen, Bratsche, zwei Voloncelli und ein fünfsaitiger Kontrabass zum Einsatz gelangten.

Darüber hinaus erklangen eine Piccoloflöte, eine Trompete in C sowie die Tuba aus der „Ferne“ des Balkons. Die 70-minütige Oper, auf deren Musik das Premierenpublikum durch die einführenden Worte von Walter Kobéra gut eingestimmt war, konnte das Publikum zu gerechtfertigtem Applaus verführen. Kobéra hatte diese Oper bereits 2016 im Rahmen des „Fast Forward Festival“ im Teatro dell’Opera di Roma musikalische geleitet. Insbesondere die grandiose Leistung von Koloratursopran Rebecca Nelson wurde akklamiert. Folgevorstellungen finden noch am 3., 5. und 6. November statt.

Harald Lacina, 31.10.21

Fotocredits: Karolina Horner