Frankfurt: „La Forza del Destino“, Giuseppe Verdi

Bericht von der Premiere am 27. Januar 2019

Es war einmal in Amerika

Als beim Schlußapplaus das Inszenierungsteam auftritt, bläst ihm ein Buh-Orkan mittlerer Stärke entgegen, wie man ihn in solcher Heftigkeit in Frankfurt selten erlebt hat. Nur wenige finden sich, mit Bravorufen in gleicher Lautstärke dagegen zu halten. Wie es dazu kam, ist eine längere Geschichte.

Erzählen wir zunächst die kürzere: die von einem musikalisch starken Abend. Er beruht nicht zuletzt auf einer herausragenden Leistung des Orchesters. Die Frankfurter Musiker stehen im Ruf, sich unter ihrem Generalmusikdirektor Sebastian Weigle zu einem erstklassigen Wagner- und Strauss-Orchester entwickelt zu haben. Zahlreiche Tonaufnahmen aus den letzten Jahren können das bezeugen. Daß der Klangkörper daneben über einen besonderen Sinn für das italienische Repertoire verfügt, hat noch keine ausreichende Beachtung gefunden. Dabei ist es spätestens seit Carlo Montanaros Dirigat des Rigoletto vor zwei Jahren gerade auch das Orchester, das Premieren italienischer Opern in Frankfurt zum besonderen Erlebnis macht. In der aktuellen Neuproduktion erreichen die Musiker unter der Leitung von Jader Bignamini dabei einen vorläufigen Höhepunkt. Schon die Ouvertüre, ein zu Tode gespieltes Wunschkonzertstück, erklingt in einer kaum zuvor gehörten Beseeltheit. Bignamini kultiviert im weiteren Verlauf mit den glänzend aufgelegten Musikern einen intensiven Klang, der selbst im zurückgenommensten Piano noch leuchtet. Standardwendungen aus dem Werkzeugkasten des Komponisten erscheinen auf einmal wie kleine Wunderwerke. Das immer wieder verwendete Streichertremolo etwa, welches Verdis Melodieeinfälle oft grundiert, erfüllt den Zuschauerraum mit ahnungsvollem Flirren. Selbst in den repetierenden Begleitfiguren ist nichts zu hören vom berüchtigten Umtata. Organisch umfassen die Instrumente die Gesangslinien. Es gibt berückende Holzbläsersoli (die Klarinette!) und saftige Einsätze des Blechs, das aber bei aller Kraft niemals ordinär wird, niemals plärrt. Dieser Orchesterklang macht glücklich.

Die Sänger der Hauptpartien werden auf Händen getragen und können ihre Prachtstimmen zur vollen Entfaltung bringen. Mit Michelle Bradley in der fordernden Rolle der Leonora ist ein Sopran zu entdecken, der sich in allen Stimmregistern gleichermaßen verströmen kann und gerade in der bei Verdi so wichtigen tiefen Lage einen satten Klang entfaltet. Die Stimme kann von dieser Basis aus bruchlos in eine cremige Höhenlage emporsteigen. Sie verfügt über ein saftiges Forte ebenso wie über die Fähigkeit zu schwebenden und leuchtenden Piani. Gelegentlich geraten einzelne Spitzentöne zu tief, was aber den Genuß an dieser Ausnahmestimme kaum trübt.

Michelle Bradley als Leonora

Einen ausgezeichneten Eindruck hinterläßt Hovhannes Ayvazyan als Don Alvaro. Sein viriler Tenor mit bronzener Tönung und bombensicherer Höhe fügt sich ausgezeichnet zu seiner Sopranpartnerin. Mit sonoren Baßtönen darf der ansonsten überwiegend für Wagnerpartien gebuchte Franz-Josef Selig in der Doppelrolle als Marchese und Padre Guardiano seine Verdikompetenz unter Beweis stellen. Als Gegenspieler des Tenorhelden zeichnet Christopher Maltman mit enormer Stimmmuskelkraft den Don Carlo als geradezu brutalen Charakter. Unter den Sängern ist er der lauteste und bekommt am Ende dafür den lautesten Beifall. Trotz der tadellosen musikalischen Bewältigung erschien uns seine Herangehensweise zu ungeschlacht. Mit weniger Lautstärke und mehr Zwischentönen hätten er uns stärker überzeugt.

Tanja Ariane Baumgartner besticht als Preziosilla mit eleganter Stimmführung und beeindruckender Höhensicherheit. Die Regie hat ihre Rolle von der Zigeunerin zur Animierdame umgedeutet. Passend dazu bleibt die Baumgartner selbst im saftigsten musikalischen Überschwang noch kontrolliert und präsentiert eine selbstbewußte Frau, die ihre Wirkung auf Männer genau kalkuliert. Ausgezeichnet paßt der markante Baßbariton von Craig Colclough zum Fra Melitone, der sich rollenadäquat kernig von Franz-Josef Seligs balsamischen Tönen abhebt.

Der von Tilman Michael vorbereitete Chor spiegelt im Vokalen die Klangcharakteristika des Orchesters mit vollem, gut gestaffeltem Klang, rhythmischer Präzision und guter Diktion. Daß im Eifer des Premierengefechts ausgerechnet das berühmte Rataplan ein wenig klappert, schmälert die ausgezeichnete Gesamtleistung nicht.

Vom Winde verweht: auf der Bühne v.l.n.r. Michelle Bradley (Donna Leonora), Nina Tarandek (Curra) und Hovhannes Ayvazyan (Don Alvaro) sowie im Film Dela Dabulamanzi (Curra) und Thesele Kemane (Don Alvaro)

Nun zur Regie, die so heftige Abwehrreaktionen ausgelöst hat. Tobias Kratzer wählt einen naheliegenden Ausgangspunkt: den Rassismus. Im Originallibretto sieht sich der Tenorheld wegen seiner indianischen Abstammung rassistisch motivierter Ablehnung durch den Vater seiner Geliebten ausgesetzt. Regisseur Kratzer will aber das ganz große Rad drehen und ein historisches Panorama des Rassismus entwerfen. Dazu macht er den Mestizen zum Afroamerikaner und verlegt die Szene in die USA. Er verwendet dabei einen Ansatz, den Stefan Herheim vor zehn Jahren erfolgreich am Parsifal in Bayreuth ausprobiert hat: Man geht Szene für Szene einigermaßen chronologisch durch die Geschichte, bei Herheim durch die jüngere deutsche Geschichte, bei Kratzer nun von der Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs bis zur Präsidentschaft Barack Obamas.

Es beginnt, recht vielversprechend, im 19. Jahrhundert in einem Landhaus, offenbar in den Südstaaten. Es treten auf: ein farbiges Zimmermädchen, ein weißer Gutsherr, seine weiße Tochter und ihr farbiger Liebhaber. Der so ausgestellte Rassenkonflikt ist für ein heutiges Publikum verständlicher als der Rassismus gegenüber dem Halbindianer aus dem Libretto. Warum ist das so? Weil eben auch und gerade die Europäer, die Nachkriegsdeutschen zumal, in ihrem ikonographischen Repertoire von nichts anderem so sehr geprägt sind wie von amerikanischen Filmen. Also bietet die erste Szene eine Reminiszenz an Vom Winde verweht. Die Vorgegebenheit der Premierenbesetzung, daß der Darsteller des Farbigen von weißer Hautfarbe ist, die Darstellerin seiner weißen Geliebten jedoch eine Afroamerikanerin, hat den Regisseur zu dem Einfall gebracht, auf den Rückprospekt einen Film zu projizieren, in dem das Bühnengeschehen noch einmal stumm mit der umgekehrten Hautfarbenzuordnung abläuft. Auch wenn Bühnenaktion und Filmhandlung nicht völlig synchron verlaufen, was auch albern gewesen wäre, finden doch die markanten Ereignisse im vorproduzierten Film wundersamer Weise punktgenau zur Musik statt. Und weil die Filmschauspieler wesentlich lebendiger und glaubwürdiger agieren als das Bühnenpersonal, konzentriert man sich ganz auf das Filmgeschehen. Auf diese Weise wird kaschiert, daß dem Regisseur in punkto Personenregie bei den Sängern außer Allerweltsgesten nichts eingefallen ist.

Kasperletheater: eine Wirtshausszene auf Amerikanisch

Nach einer kurzen Umbaupause findet man sich in einem Westernsaloon wieder, in dem nun die Wirtshausszene spielt. Die Protagonisten tragen Schwellköpfe. Die Einrichtung ist bewußt vergröbert und hat die Anmutung von zu groß geratenem Kinderspielzeug. Aha, denkt man sich, da hat jemand seinen Ulrich Schreiber (Die Kunst der Oper) gelesen, von wegen Verdis „Kasperle- und Welttheater“. Das geht ebenfalls in Ordnung. Die nachfolgende Szene vor dem Kloster springt dann unversehens ins 20. Jahrhundert. Die Klosterbrüder sind biedere evangelikale Langeweiler mit Hemd und Pullunder. Man ahnt bei der Textzeile „die Brüder sollen sich mit brennenden Kerzen am Altar versammeln“, wohin das führen wird und tatsächlich: die Biedermännern ziehen sich weiße Kapuzen über und fackeln ein Kreuz ab. Willkommen beim Ku Klux Klan. Mit diesen Eindrücken geht man in die Pause.

Im Original-Libretto ist dann die Feldlager-Szene dran. Verdi springt dafür von Spanien nach Italien. Tobias Kratzer holt aus dem Fundus der Filmikonen die Hubschrauber-Szene aus Apocalyse now hervor. Was das mit dem Rassismus gegen Afroamerikaner zu tun hat? Nichts. Nachdem er aber in der vorigen Szene bereits in der Mitte des 20. Jahrhunderts angekommen war, ist nun Vietnam der chronologisch nächste größere Kriegsschauplatz. Hier kämpfen aber weiße und farbige Soldaten Seit an Seit. Um doch noch einen Bezug zum Rassismus herzustellen, werden asiatisch aussehende Komparsen auf die Bühne getrieben und schikaniert. Ein afroamerikanischer Soldat erschießt dann einen dieser Vietnamesen. Immerhin zeigt er anschließend Trauer über seine Tat. Kratzer muß gespürt haben, daß diese Randepisode allein die Wahl des Sujets nicht trägt. So liefert er gleichsam den gedanklichen Überbau nach, und das mit einem cleveren Kniff: Die Feldpredigt des Fra Melitone wird mit der berühmten Rede Beyond Vietnam von Martin Luther King überblendet. Gesungen wird der italienische Originaltext, während ein historisches Video die Rede des Bürgerrechtlers zeigt. Dieser bewegt zwar lediglich stumm die Lippen, sein Redetext erscheint jedoch in Form von Untertiteln, zugleich bleibt der Schirm mit den Übertiteln zur Übersetzung des italienischen Operntextes schwarz. Also liest das Publikum: „Somehow this madness must cease. We must stop now. I speak as a child of God and brother to the suffering poor of Vietnam.“ Es wird damit der Moment heraufbeschworen, in dem die Bürgerrechtsbewegung eine Wendung zur Friedensbewegung nahm.

Was folgt daraus für den Gang der Handlung? Nichts, denn man muß ja weiter zur nächsten Szene mit der Armenspeisung. Sie findet vor schmucklosen weißen Wänden statt. Eine lebensgroße Statue von Barack und Michelle Obama markiert die Ankunft im 21. Jahrhundert. Wo ist der Bezug zum Rassismus? Der kommt erst wieder in der Schlußszene. Wieder wird sie von einem Film auf dem Rückprospekt gedoppelt. Wieder treten die Darsteller aus der Vom-Winde-verweht-Szene des Beginns auf. Dieses Mal ist der Schauplatz ein Hotelzimmer. Hier spielt sich die tödliche finale Konfrontation von Alvaro und Carlo ab. Zwei weiße Polizisten erscheinen und erschießen Carlo. Die Kamera zoomt auf den Fernseher im Hotelzimmer. Zu sehen sind Bilder von einer Demonstration: „Black lives matter.“ Vorhang.

Das alles ist durchaus unterhaltsam, aber mitunter auch ziemlich platt. Im Programmheft und im Video-Trailer zur Produktion gibt der Regisseur Auskunft über seine Absichten. Er verkauft sich und seine Ideen sehr gut. Daß ihm keine zwingende szenische Umsetzung aus einem Guß gelungen ist, daß seine bunten Bilder episodisch bleiben und allzu offensichtlich auf äußere Reize setzen, hält er für werkimmanent: disparate Vorlage, disparate Umsetzung. Kratzer macht es sich damit ein wenig zu leicht. Müssen sich die Defizite des Librettos denn unbedingt auch in der Regie widerspiegeln? Will man das am Ende als höhere Form der Werktreue ausgeben? All die bunten Bilder und die klugen Assoziationen können über eines nicht hinwegtäuschen: Kratzer kümmert sich zu wenig um seine Figuren. Individuelle Psychologie? Plausibilisierung der Motivation der Handelnden? Fehlanzeige. Lediglich in den Rahmenszenen, zu Beginn und zum Schluß also, gelingt es dem Regieteam in Ansätzen, das übergeordnete Thema auf die individuellen Schicksale der Protagonisten herunterzubrechen, bezeichnender Weise aber mehr in den vorproduzierten Einspielfilmen als in der Bühnenhandlung. Ansonsten hat man je länger der Abend dauert umso mehr den Eindruck, daß hier mit einer allzu cleveren Regie ein krudes Libretto auf das Prokrustesbett eines wohlfeilen politischen Überbaus gespannt wird. Vielleicht geht mehr auch nicht. Vielleicht aber wäre weniger sogar mehr gewesen.

Gesprächsstoff bietet diese Produktion allemal. Wer sich auf die bunte Bilderwelt des Regieteams nicht einlassen will, schließt eben die Augen und genießt eine musikalische Darbietung auf herausragendem Niveau.

Michael Demel, 31. Januar 2019

Bilder (c) Monika Rittershaus