Frankfurt: „Rinaldo“, Georg Friedrich Händel

Bericht von der Wiederaufnahmepremiere am 12. Januar 2019

Frisch wie am ersten Tag

Wiederaufnahmen im Bockenheimer Depot sind eine Seltenheit. Wer bei den üblicherweise schnell ausverkauften Aufführungsserien in der Nebenspielstätte der Frankfurter Oper keine Karte ergattern kann, versäumt etwas Unwiederbringliches. Wenn nun die gefeierte Produktion von Händels Rinaldo aus dem Jahr 2017 eine zweite Auflage erfährt, dann ist dies ein Geschenk für alle Opernfreunde, die seinerzeit bei der Kartenvergabe das Nachsehen hatten. Inzwischen sind auch dieses Mal wieder sämtliche Vorstellungen ausverkauft. Es lohnt sich aber, sich an der Abendkasse um Restkarten zu bemühen. Denn die Wiederaufnahme präsentiert sich frisch wie am ersten Tag.

Wie auch bei Xerxes, der weiteren Wiederaufnahme in diesem unerklärten kleinen Händel-Festival, ist es vor allem ein Ausnahmekünstler, dem die Produktion auf den Leib geschneidert ist. Am großen Haus ist dies der Dirigent Constantinos Carydis, hier im Bockenheimer Depot der Countertenor Jakub Józef Orliński.

Jakub Józef Orliński (Rinaldo)

Bei der Vorstellung des Spielplans hatte Intendant Bernd Loebe ihn väterlich „unseren Jakub Orliński“ genannt und stolz verkündet, daß dieser neben der Wiederaufnahme auch für den Premierenzyklus von Händels Rodelinda im Mai neben der Countertenor-Legende Andreas Scholl gebucht ist. Die aktuelle Produktion jedenfalls wäre ohne Orliński in der Titelrolle kaum denkbar. Das Regieteam hat nämlich die Doppelbegabung des jungen Ausnahmekünstlers wirkungsvoll eingesetzt: Er ist nicht nur Sänger, sondern professioneller Breakdancer. Schon zur Ouvertüre präsentiert er mit einem weiteren Tänzer einen sehenswerten Schwertkampf in ausgefeilter Choreographie und mit akrobatischen Stunt-Effekten. Immer wieder gibt es im weiteren Verlauf der Handlung solche Momente von Artistik, die aber niemals aufgesetzt wirken. Stimmlich präsentiert der junge Sänger sich erneut mit klarer, gut geführter Counterstimme, die in zurückgenommen Momenten zu berühren und bei Koloraturfeuerwerken in atemberaubendem Tempo zu beeindrucken weiß.

Musikalisch ist die Produktion dem Premierenzyklus ansonsten sogar um einige Nuancen überlegen. Elisabeth Reiters farbiges und vielschichtiges Porträt der Zauberin Armida als der großen Gegenspielerin des Titelhelden präsentiert sich nun noch ausgereifter und noch differenzierter. Die Stimme ist voller und reicher geworden, hat aber ihre Geläufigkeit bei den Koloraturen nicht eingebüßt. Auch Karen Vuong kann ihre gute Leistung aus dem Premierenzyklus wiederholen. Verdienten Szenenapplaus erhält sie nach dem Wunschkonzert-Schlager Lascia ch’io pianga, den sie wieder mit ergreifender Innerlichkeit beginnt, schweben läßt und dann im Wiederholungsteil stilsicher und geschmackvoll ausziert. Julia Dawson überzeugt erneut in der Hosenrolle des Königs Goffredo, der absichtsvoll skurril als Karikatur eines Tattergreises dargestellt wird. Bei ihr wird besonders ohrenfällig, wie eine Stimme in kurzer Zeit reifen kann. Wo sie im Premierenzyklus noch ein wenig zu leichtgewichtig und hell wirkte, ist nun mehr Volumen und Fülle zu hören. Neu besetzt ist Gordon Bintner als Argante, der mit seinem saftigen Bariton die seinerzeitige (gute) Premierenbesetzung stimmlich übertrifft.

Gordon Bintner (Argante) und Elizabeth Reiter (Armida) sowie im Hintergrund Tänzerinnen

Die jungen Sängerinnen und Sänger sehen zudem allesamt blendend aus und bewegen sich auch im Vergleich zu den Profitänzern derart sicher und geschmeidig, daß die Amalgamierung von Musik, Tanz und Spiel ideal gelingt.

Im Hinblick auf die szenische Umsetzung hat sich der Premiereneindruck beim Wiedersehen bestätigt: Das ehemalige Straßenbahndepot an der Bockenheimer Warte scheint Künstler zu außerordentlichen Leistungen und insbesondere Bühnenbildner und Regisseure zu ungewöhnlichen Raumlösungen herauszufordern. Dieses Mal füllt eine riesige, abschüssige Rampe die gesamte Breite zwischen den Stahlsäulen des Saales aus. Sie dehnt sich in die Tiefe des Raumes und bleibt zunächst leer. In dieser riesigen, schwarzen Leere haben Regisseur Ted Huffmann und Choreograph Adam Weinert mit sechs Sängern, acht Tänzern und wenigen sparsam eingesetzten Requisiten ein dichtes und fesselndes Spiel arrangiert, das auch ohne Musik über die gesamte Dauer von drei Stunden das Publikum in seinen Bann ziehen könnte. Die Kostüme der männlichen Figuren sind mit Pluderhose und Wams im 16. Jahrhundert verortet, der Zeit also, in der Torquato Tasso sein Ritterepos La Gerusalemme liberata verfaßte, welches Händels Librettist als Vorlage diente. Auf leerer Bühne werden also nur leicht stilisierte, historisierende Kostümen gezeigt. Auch die zahlreichen Schwertkämpfe werden tatsächlich mit Schwertern durchgeführt.

„Post-post-Moderne“ nennt der Regisseur seinen Inszenierungsstil. Er ist fern von Aktualisierungen, aber auch fern von jeder Imitation barocken Budenzaubers. Es gibt keine Flugmaschinen und Bühneneffekte, die bei der Uraufführung zum spektakulären Erfolg von Händels ersten Oper für das Londoner Publikum wohl nicht unwesentlich beigetragen hatten. In Frankfurt ist die perfekte Choreographie mit ihrem genau kalkulierten Bewegungsvokabular und ihre Verschmelzung mit einer überzeugenden Personenregie das Spektakuläre. „Wie Rauch“ etwa sollen sich die drei Tänzer über die Bühne bewegen, welche als Furien die Zauberin Armida begleiten. So hat es der Choreograph im Begleitheft als Anspruch formuliert, und dieses Versprechen hat er eingelöst.

Abgerundet wird dieser erneut außerordentlich geglückte Abend durch die hohen Qualitäten des Orchesters. In bewährter Weise werden Stammkräfte um Spezialisten für Alte Musik ergänzt. Auf dem Fundament vibratolos und intonationssicher spielender Streicher und einer ebenso konzentrierten wie flexiblen Continuogruppe brillieren charakteristisch gefärbte Holzbläser und knackige Naturtrompeten. Wie schon im Premierenzyklus führt der hauseigene Kapellmeister Simone di Felice, der sich zum Experten für Alte Musik gemausert hat, die hochmotivierten Musiker sicher durch die abwechslungsreiche Partitur.

Michael Demel, 13. Januar 2019

Bilder: Barbara Aumüller