Bericht von der Premiere am 3. November 2019
Musikalisch überwältigend, szenisch defizitär
Niemand kann eine Aufführung von Dmitri Schostakowitschs bedeutendstem Beitrag zum Musiktheater rezensieren, ohne davon zu erzählen, daß diese Oper den Komponisten seinerzeit in ernste Lebensgefahr gebracht hatte. Entledigen wir uns also dieser Pflicht: Eigentlich lief es gut für den jungen Komponisten. Seine 1934 im damaligen Leningrad uraufgeführte Oper wurde begeistert aufgenommen, schnell von zahlreichen Theatern innerhalb und außerhalb der Sowjetunion nachgespielt und erlebte innerhalb von zwei Jahren allein in Moskau 94 Aufführungen. Bis am 28. Januar 1936 in der Prawda, dem Zentralorgan der kommunistischen Staatspartei, ein vernichtender Artikel unter der Überschrift „Wirrwarr statt Musik“ (in anderen Übersetzungen „Chaos statt Musik“) erschien. Als Autor des anonym veröffentlichten Artikels mußte der Komponist niemand anderen als Stalin persönlich vermuten, hatte dieser doch tags zuvor eine Aufführung der Oper besucht und offenbar aufgebracht vom Dargebotenen vorzeitig die Vorstellung verlassen. In der Prawda war anschließend von „Musiklärm“ die Rede und davon, daß „Geschrei den Gesang“ ersetzt habe. Dieses Verdikt durch den Diktator selbst kam im schlimmsten Fall einem Todesurteil gleich, wenigstens aber drohte dem Erreger des Stalin‘schen Zorns die Verbannung in eines der berüchtigten Straflager. Schostakowitsch jedenfalls lebte seit Erscheinen des Artikels auf gepackten Koffern und rechnete allnächtlich mit seiner Verhaftung. Julian Barnes hat dies in seinem Roman „Der Lärm der Zeit“ eindringlich geschildert.
Anja Kampe in der Titelrolle
Den interessierten Besucher der Frankfurter Neuproduktion erwartet nun weder allzu derber Lärm, noch Geschrei. Es wird im Gegenteil vorzüglich musiziert und herausragend gesungen. Generalmusikdirektor Sebastian Weigle präsentiert mit einem Orchester in Höchstform eine geschliffene und bis in die kleinsten Nuancen ausgeleuchtete Interpretation der vielschichtigen Partitur, wie man sie so zuvor kaum je gehört zu haben meint. Die berüchtigten lauten Passagen werden durchaus lustvoll ausmusiziert. Der „Lärm“ dröhnt aber nicht, er bleibt Musik, bleibt in seiner Form, seiner Struktur, vor allem seiner Klangfarbe erlebbar. Das Derbe wird plastisch ausgespielt, die vielen grotesken Wendungen haben Biß und Schärfe. Daneben gelingen die zurückgenommenen, leisen Passagen in schlichter Klarheit. Immer wieder hat hier der Komponist die Instrumentation ausgedünnt, kombiniert er nur wenige Instrumente zu einem fragilen Klang. Gerade hier zeigt sich die große Gestaltungskunst des Dirigenten, der selbst im leisesten Piano und im zurückgenommensten Tempo nie den Spannungsfaden abreißen läßt.
Alfred Reiter (Pope; oben in der Bildmitte ), darunter Anja Kampe (Katerina Ismailowa) und Dmitry Golovnin (Sergei) sowie Ensemble
Die tragenden Partien sind, ungewöhnlich für Frankfurt, allesamt mit Gästen besetzt, man möchte sagen: geradezu ideal. Anja Kampe lotet als Katerina die Vielschichtigkeit der Titelpartie mit den enormen Möglichkeiten ihrer Prachtstimme aus. Sie zeigt dabei nicht die typischen Nebenerscheinungen eines jahrelangen Einsatzes im hochdramatischen Fach. Es gibt bei ihr kein übermäßiges Vibrato, keine gestemmte Tiefe, keine scharfe Höhe. Diese Stimme ist bei all ihrer Fülle durch alle Register bruchlos intakt, verfügt über ein intensives, tragendes Piano und über eine leuchtende Höhenlage. Vor allem aber ist die Kampe eine phänomenale Stimmschauspielerin. Von der gelangweilten Ehefrau über die skrupellose Mörderin bis zur gebrochenen Betrogenen am Ende beglaubigt sie jede Wendung musikalisch genau und emotional eindringlich.
Dmitry Belosselskij (Boris) und Anja Kampe (Katerina)
Als ihr Schwiegervater und Gegenspieler Boris beeindruckt Dmitry Belosselskij mit seinem fülligen, schwarzen Baß. So herrisch er in der Rolle des despotischen Gewaltmenschen aufzutrumpfen versteht, so eindringlich vermag er im letzten Akt die Partie des Alten Zwangsarbeiters zu gestalten. In Statur und Timbre rollenadäquat sind die beiden Tenöre: Dmitry Golovnin gibt den Verführer Sergei heldentenoral viril und breitbeinig, Evgeny Akimov den gehörnten Gatten Sinowi mit prägnantem Charaktertenor. Das Stammensemble des Opernhauses glänzt in den Nebenrollen. Iain McNeil begeistert als zynisch-brutaler Polizeichef mit seinem kernigen, saftigen Bariton. Zanda Svede gibt Katerinas Nebenbuhlerin Sonjetka mit ihrem satten Mezzosopran die passende Prise Verruchtheit. Alfred Reiter als Pope und Peter Marsh als betrunkener Landstreicher können einmal mehr ihre Buffo-Qualitäten ausspielen. Sie sorgen für die wenigen komödiantischen Momente der Inszenierung.
von oben: Anja Kampe (Katerina Ismailowa) sowie unten v.r.n.l. Dmitry Belosselskiy (Boris Ismailow), Dmitry Golovnin (Sergei) und Ensemble
Obwohl nämlich der Komponist sein Stück eine „tragische Satire“ genannt hat, haben Regisseur Anselm Weber und sein Ausstatter Kaspar Glarner den satirischen Charakter fast vollständig eliminiert und zeichnen schlicht und ernst die Tragödie einer vereinsamten Frau in einer trostlos-brutalen Welt. Das Einheitsbühnenbild zeigt das Innere eines fensterlosen, bunkerartigen Rundbaus in tristem Grau. In der Mitte wird zu passenden Gelegenheiten eine Art Kapsel heruntergelassen, welche als Schlafzimmer dient. Katerina entflieht dieser Ödnis immer wieder mit Hilfe einer Virtual-Reality-Brille. Was sie dort sieht, wird an die Wände des Bunkers projiziert. Es sind bunte Blüten, die in psychedelischen Farbexplosionen sekundenschnell aufblühen und wieder vergehen. Mit den auch schauspielerisch sehr engagierten Sängern gelingt dem Regisseur eine plastische Belebung der äußeren Handlung. Anja Kampe und Dmitry Belosselskij überzeugen besonders durch die auch mimisch eindringliche Gestaltung ihrer wichtigen Monologe. Wollte man es freundlich ausdrücken, könnte man sagen, der Regisseur inszeniere handwerklich sauber am Libretto entlang. Unfreundlich gesagt, inszeniert er damit aber über weite Strecken an der Musik vorbei. All das Groteske, Komische, Schrille, Parodistische, was da in größter Farbigkeit auf den Punkt genau aus dem Orchestergraben tönt, findet auf der Bühne kaum eine Entsprechung. Schostakowitschs beißender Humor bleibt dem Regieteam fremd, genauso wie es mit den durchgehend präsenten Tanzrhythmen wenig anzufangen weiß. Auch daß es eine eigene Blaskapelle als Bühnenmusik gibt, bemerkt der Zuschauer erst, als sich die Blechbläsertruppe beim Schlußapplaus auf der Bühne verbeugt. Zu sehen war von ihr drei Stunden lang nichts. Dieser besondere Effekt eines separaten Orchesters auf der Bühne wird von der Regie verschenkt.
Anja Kampe (Katerina Ismailowa; vorne liegend), Barbara Zechmeister (Zwangsarbeiterin; rechts davon stehend) und Ensemble
Dafür ist die Inszenierung da stark, wo das Stück sein satirisches Kleid ablegt und zur reinen Tragödie wird: Im Schlußbild, dem Zwischenhalt auf dem Weg ins Straflager, kommen endlich Bühne und Musik zusammen. Schostakowitsch hat hier die Möglichkeit geschaffen, Mitleid mit der Mörderin Katerina zu empfinden. Nun entfaltet auch die kalte Tristesse des Bühnenbildes ihre adäquate Wirkung. Durch einen durchaus nicht neuen, einfachen Effekt erreicht die Regie schließlich große Wirkung: Die Mitglieder des Chores kommen in versprengten Gruppen durch die Türen des Parketts und des ersten Ranges in den Zuschauerraum und singen in bewundernswerter Homogenität den abschließenden Klagegesang. Der Klang umhüllt das Publikum leise und eindringlich. Ein emotional packendes Ende.
So ist in Frankfurt eine musikalisch beglückende Produktion zu erleben, welche szenisch einige Wünsche offen läßt.
Michael Demel, 6. November 2019
© der Bilder: Barbara Aumüller