Frankfurt: „Macbeth“, Giuseppe Verdi

Als „Wundertüte“ hatte Intendant Bernd Loebe die Inszenierungen R.B. Schlathers bei der Vorstellung der neuen Saison bezeichnet. Ihm mag dabei vor Augen gestanden haben, wie unterschiedlich die bislang drei Inszenierungen des amerikanischen Regisseurs an der Oper Frankfurt ausgefallen sind: Ein Psychothriller um einen irren Gewaltherrscher in einem hell ausgeleuchteten Zweckbau bei Tamerlano im Bockenheimer Depot, eine perfekt choreographierte Komödie mit treffsicheren Slapstickeinlagen bei Italiana in Londra und eine im Bühnenbild radikal reduzierte, darstellerisch intensive Madama Butterfly. Bei allen Unterschieden haben sich in allen drei Arbeiten aber Elemente eines Inszenierungsstils abgezeichnet: Schlather verzichtet auf theoretische Überbauten und das Publikum belehrende Deutungen. Vielmehr blickt er sehr genau auf seine Figuren, beobachtet ihre Psyche wie unter einem Brennglas. Diese Haltung prägt auch seine Sicht auf Verdis frühe Shakespeare-Adaption Macbeth. Im Programmheft antwortet er auf die Frage, wovon Macbeth denn handele, bloß: „Für mich geht es um ein Ehepaar“. Man möchte mit Loriot ausrufen: „Ach was!“, aber diese schlichte Antwort bringt die Haltung des Regisseurs auf den Punkt: Das Stück handelt, wovon es handelt. An der Deutschen Oper Berlin ist eine Macbeth-Inszenierung genau eine Woche vor der Frankfurter Premiere eben daran gescheitert, daß sie einen verkopften Überbau (Kampf um Öl- und Gasressourcen in der Nordsee) mehr behauptet als dargestellt und den Kern von Shakespeares Drama meilenweit verfehlt hat (gleich zwei OF-Kritiken haben von einem szenischen Debakel berichtet, siehe erste und zweite Besprechung, und Kritiker-Veteranin Eleonore Büning hat Besuchern empfohlen, während der Vorstellung die Augen zu schließen). R.B. Schlather bleibt in Frankfurt dicht am Text und beinahe noch dichter an der Musik, auch wenn er die Handlung in die Gegenwart verlegt.

© Monika Rittershaus

Für die Neuproduktion hat er sich von Etienne Pluss das Innere einer großzügigen Wohnung des deutlich gehobenen Preissegments samt Edel-Küche und bodentiefen Fenstern mit Blick ins Grüne bauen lassen. Man hat derartige Bühnenbilder einer kalten Moderne in sterilem Hellgrau schon allzu oft gesehen. Aber es kommt natürlich darauf an, was man daraus macht. Und wie man es beleuchtet. Hier zeichnet Olaf Winter etwa im vierten Akt mit Hell-Dunkel-Kontrasten Nachtbilder von monumentaler Trostlosigkeit. Die Protagonisten wirken beinahe wie kleine Schattenrisse in einer überdimensionierten Architektur. In den ersten drei Akten folgt der Regisseur aber seiner Einschätzung, er halte diese Oper keineswegs für dunkel, sondern vielmehr für „vulgär, farbenreich und reißerisch aufgemacht“. Die Phantastik der eröffnenden Hexen-Szene wird heruntergebrochen auf einen Halloweenabend. Hexen-Kostüme trägt eine Schar von Kindern, die das Protagonistenpaar an die Leerstelle ihrer Ehe erinnert: die Kinderlosigkeit. Dieser Aspekt wird als roter Faden eher beiläufig weitergeführt und dient der Regie zur chronologischen Einordnung des Handlungsverlaufs: „Kinder-Feiertage“ als Orientierungspunkte, zunächst Halloween, dann für den zweiten Akt eine Weihnachtsfeier, deren Stimmung durch die Wahnvorstellungen Macbeths kippt, und schließlich für den Schluß das Osterfest. Letzteres bleibt im Gegensatz zu den farbenfroh ausgearbeiteten ersten beiden Festen eine bloße Behauptung des Programmhefts.

Aslan Diasamidze (König Duncan), Nicholas Brownlee (Macbeth), Tamara Wilson (Lady Macbeth), Anton Römer (Fleance) und Kihwan Sim (Banquo; rechts stehend) / © Monika Rittershaus

Der Fokus auf die Psyche der Figuren erfordert Sängerdarsteller, die mit ihrer Präsenz die großen und zurückhaltend ausgestatteten Bühnenräume füllen können. In Nicholas Brownlee und Tamara Wilson hat der Regisseur diese Darsteller gefunden. Die beiden identifizieren sich rückhaltlos mit dem aus Machtgier skrupellos mordenden Paar und liefern darstellerische Glanzstücke ab.

Die Titelrolle hatte Verdi 1847 dem Sänger der Uraufführung auf den Leib geschrieben, den Ulrich Schreiber in seiner „Kunst der Oper“ wie folgt beschreibt: „von scharfem Intellekt, kleiner Gestalt und einer ausgeprägten Deklamationsfähigkeit“. Intellekt und Deklamationsfähigkeit mag man Nicholas Brownlee in der aktuellen Neuproduktion bescheinigen. Äußerlich aber besitzt er das Gegenteil einer kleinen Gestalt. Auch sein Baßbariton verfügt über Kraft und wenn es sein muß Wucht. Gestalt und Stimme haben XXL-Format. Erst vor einem Monat hat er in München ein vielbeachtetes Debüt als Wotan im Rheingold hingelegt. Nun charakterisiert er die Ambivalenz von Verdis Anti-Helden mit der großen Bandbreite seiner Stimme: eitles Auftrumpfen und brutale stimmliche Potenz werden kontrastiert von fahler Feigheit und paranoider Ängstlichkeit. Brownlee verfügt über eine satte Mittellage, eine profunde Tiefe und eine unangestrengte Höhe, um dies technisch ohne Kompromisse umzusetzen. Zu dieser Wotan-Stimme hatte man in Frankfurt eine Brünnhilden-Stimme für die Lady Macbeth gecastet. Allein: Zu hören ist Tamara Wilson in ihrem geplanten Rollendebüt nicht. Ein Infekt hat sie pünktlich zur Premiere verstummen lassen. Immerhin mimt sie ihre Figur mit der Expressivität einer Stummfilmdiva. Die Stimme leiht ihr vom Bühnenrand aus als kurzfristig eingeflogene Retterin in der Not Signe Heiberg. Die dänische Sopranistin hatte mit der Rolle bereits 2022 am kleinen Theater Bremerhaven auf ihre enormen stimmlichen Möglichkeiten aufmerksam gemacht (unsere Kritik) und erst kürzlich in dieser Partie am Theater Heidelberg hymnische Kritiken geerntet. Nun hat sie auch das Frankfurter Publikum im Sturm erobert. Ihr Stimmvolumen kann mit dem raumfüllenden XXL-Format Brownlees mühelos mithalten. In punkto gestalterisches Vermögen übertrifft sie ihn sogar. Verdi hatte seinen Sängern die paradoxe Anweisung mitgegeben: „Das Duett zwischen der Lady und ihrem Mann und die Nachtwandlerszene … dürfen absolut nicht gesungen werden. Man muß sie mit recht hohlen und verschleierten Stimmen darstellen.“ Diese Effekte gelingen Signe Heiberg ohne Preisgabe einer tadellosen technischen Führung ihrer Stimme. Sie verfügt einfach über eine staunenswerte Fülle an Klangfarben, über die kalte Glut, mit der sie ihren Gatten antreibt, über die prickelnde Beweglichkeit im Trinklied bis hin zu den gedeckt-angespannten Tönen der Nachtwandlerszene. Die jugendlich-dramatische Frische der Stimme baut auf einem satten Fundament in der Tiefenlage auf und kann unerschrocken die Spitzentöne attackieren. Von dieser Sängerin, die bislang als Geheimtipp gilt, wird man noch hören.

Nicholas Brownlee (Macbeth) und Tamara Wilson (Lady Macbeth) / © Monika Rittershaus

Mit der Besetzung der Nebenrollen wird der Abend zum vollendeten Sängerfest. Neben den beiden Hauptpartien hat Kihwan Sim den größten Gesangspart als Banquo. Sein in allen Lagen wohlklingender Baßbariton paßt ausgezeichnet zu der Partie. Mit lediglich einer Arie gibt Matteo Lippi als Macduff sein Hausdebüt und empfiehlt sich mit seinem saftigen Tenor für größere Verdi-Partien. Kudaibergen Abildin kann als Malcolm im Duett mit ihm mithalten. Daß in den kleinen Partien der Kammerfrau und des Arztes Karolina Bengtsson und Erik van Heyningen besetzt sind, ist der pure Luxus.

Als „dritte Hauptfigur“ hat Verdi den Chor der Hexen bezeichnet. Auch die Männerstimmen haben als Verschwörer einen prominenten Einsatz. Überhaupt kann man von einer Choroper sprechen. Zur Vorbereitung hat man sich den Stuttgarter Chordirektor Manuel Pujol ausgeliehen, unter dessen Leitung das Sängerkollektiv an seine herausragenden Leistungen der vergangenen Saison anknüpfen kann.

Matteo Lippi (Macduff; halbrechts stehend in weißem Hemd) sowie Chor der Oper Frankfurt / © Monika Rittershaus

Am Pult des bestens aufgelegten Orchesters demonstriert Thomas Guggeis, warum der Macbeth aus den Fließbandwerken von Verdis „Galeerenjahren“ zwischen Nabucco und Rigoletto hervorsticht. Was der Komponist hier an Klängen und Formen ausprobiert hat, weist auf die Werke der späteren Erfolgstrias mit Rigoletto, Traviata und Troubadour hin und mitunter weit darüber hinaus. Aber so farbig, so vielschichtig, so genau hat man die Partitur selten gehört. Und obwohl jedes Detail durchdacht ist, sogar jede Verzögerung, jede Pause genau kalkuliert scheint, die Kontraste messerscharf herausgearbeitet sind, besitzt der Klang eine ungeheure, nie nachlassende Intensität. R.B. Schlather tut gut daran, diese außerordentliche Qualität der Musik in den Aktvorspielen für sich und ohne Inszenierungszutat vor geschlossenem Vorhang wirken zu lassen.

Musikalisch ist es ein großer, szenisch ein kurzweiliger und spannend erzählter Abend geworden. Die Produktion ist kein Anwärter auf den Titel der „Inszenierung des Jahres“, fügt sich in der sicheren Beherrschung des Regiehandwerks aber gut in die Reihe der bisherigen Premieren der Saison ein.

Michael Demel, 2. Dezember 2024


Macbeth
Giuseppe Verdi

Oper Frankfurt

Premiere am 1. Dezember 2024

Inszenierung: R.B. Schlather
Musikalische Leitung: Thomas Guggeis
Frankfurter Opern-und Museumsorchester