Frankfurt: „Madama Butterfly“, Giacomo Puccini

Bericht von der Premiere am 22. Mai 2022

Radikal entfettet

„Ich gestehe, daß ich selber sozusagen mit der Psychose lebe, ein Italiener zu sein. Ich kann Puccini nicht vertragen und sage so oft „Nein“ wie möglich zu italienischem Repertoire. „Bohème“, das sehe ich ein, ist ein Meisterwerk. Aber „Tosca“? Das dirigiere ich auf keinen Fall.“

Das sprach der Dirigent Antonello Manacorda in einem Interview mit der Zeitschrift RONDO im Jahr 2016. Nun dirigiert er an der Oper Frankfurt die Madama Butterfly, die wir als Rührstück in Erinnerung haben, das traditionell auf der Bühne mit fernöstlichen Ausstattungsklischees vollgerümpelt wird, Kimono, Kirschblüten und was sich der Europäer so unter Japan vorstellt. Daß Manacorda nun trotz seines noch gar nicht so alten Verdikts nun ausgerechnet an diesem Repertoire-Schinken seine Puccini-Neurose erfolgreich bewältigen kann, verdankt er der Grundhaltung des für die Szene verantwortlichen Produktionsteams und vor allem der Besetzung der Titelpartie. Die junge Sopranistin Heather Engebretson gibt ihre erste Cio-Cio-San, und alles ist anders als gewohnt. Sie ist bereits optisch perfekt gecastet: Eine zierliche junge Frau, bei der im Publikum niemand kichern muß, wenn sie zu Beginn ihr Alter verrät: 15 Jahre. Daß die Amerikanerin chinesische Vorfahren hat, erspart der Regie die Auseinandersetzung mit der Frage, ob es politisch korrekt ist, eine nicht-asiatische Sängerin klischeehaft umzuschminken. Die Kostümbildnerin Doey Lüthi spendiert ihr zwei elegante, moderne Abendkleider, in denen die Engebretson eine ausgezeichnete Figur macht, eines in rot und ein silbrig schimmerndes. Dies sind die beiden zentralen Farbtupfer in der von Johannes Leiacker vollständig entrümpelten Bühne.

Dabei folgt er listig dem Libretto, in dem es zu Beginn über das vom Kuppler Goro für Pinkerton vorbereitete Haus heißt: „Diese Wände und Decken … könnt Ihr alle verschieben, und immer nach Belieben in demselben Gemache ’nen wechselnden Anblick Euch verschaffen.“ Das Frankfurter Bühnenbild besteht dementsprechend aus zwei verschiebbaren Wänden, einer schwarzen im vorderen Bereich und einer weißen hinten mit jeweils einer fensterartigen Aussparung. Das einzige Möbelstück darin ist ein Stuhl. Mal gibt die vordere Wand den Blick auf das Geschehen frei, mal verdeckt sie es. Kaltes Licht (Olaf Winter) verstärkt die radikale Reduktion. Puccinis Tragedia giapponese ist damit aller Japonismus ausgetrieben worden. Und so zieht die zierliche Kindfrau alle Blicke auf sich.

Heather Engebretson als Cio-Cio-San

Engebretson hat für die Konversation des Beginns helle und klare Töne, die die mädchenhafte Naivität beglaubigen, zeigt dann jedoch, daß sie über eine zweite Stimme verfügt. Man staunt, zu welcher Kraft und welchem Volumen sie sich aufschwingen kann. Leidenschaft, Hoffnung, Verzweiflung, Resignation: Für jede Gefühlsregung findet sie eine überzeugende Stimmfarbe. Ihr Spiel bildet mit dem Gesang eine Einheit. Regisseur R.B. Schlather hat mit ihr Gesten und Aktionen erarbeitet, die fern von jeder Beliebigkeit sind. Der Jubel im Schlußapplaus für diese außerordentliche Leistung erreicht Orkanstärke. Die Cio-Cio-San mag schon saftiger oder kulinarischer oder pathetischer gesungen worden sein, nie aber wahrhaftiger.

Auf Augenhöhe mit der Protagonistin agiert Kelsey Lauritano als Suzuki, deren warmer Mezzosopran einen passenden Kontrast zur hellen Stimme der Engebretson bietet. Auch bei ihr sind Gesten und Blicke genau auf Szene und Musik abgestimmt und gelingen dabei mit eindringlicher Selbstverständlichkeit. Szenisch weniger gefordert ist Domen Krizaj als Konsul Sharpless, der mit seinem sonoren Bariton gefällt. Vincenzo Costanzo ist als Pinkerton kurzfristig für den erkrankten Evan Leroy Johnson eingesprungen. Er macht seine Sache ordentlich und fügt sich gut in das Regiekonzept ein. Seinem schlanken Tenor trotzt er einige Spinto-Töne ab und klingt dabei in der Höhenlage ein wenig steif und halsig.

Kelsey Lauritano als Suzuki

Einen kurzen, aber eindrucksvollen Auftritt hat Kihwan Sim als Onkel Bonzo. Mit seinem dunklen, machtvollen Baßbariton verleiht er der Verfluchung und Verstoßung Cio-Cio-Sans gnadenlose Autorität. Er ist als einzige Figur in japanische Tracht gekleidet und trägt zudem den Schädel kahlrasiert. Sein Auftritt wird von plötzlich aufwallendem Bühnennebel begleitet und so als geradezu katastrophisches Hereinbrechen des Geltungsanspruchs erstarrter Tradition herausgestellt. Nur an einer weiteren Stelle erlaubt sich das Produktionsteam noch einen solchen kalkulierten Rückgriff auf einen gewöhnlichen Theatereffekt: Zur Hochzeitsnacht senkt sich ein funkelnder Sternenhimmel von oben herab. Das Publikum weiß, dies ist bloß Kulisse. Nur Cio-Cio-San träumt dazu von der wahren Liebe.

Der böse Kern der Geschichte, den R.B. Schlather auf der nackten, kalten Bühne freilegt, rührt nicht, er schmerzt. Wie die junge Frau an einen amerikanischen Offizier zu dessen Vergnügen verschachert wird, seine Liebe für aufrichtig hält, geschwängert und verlassen wird, trotzdem unbeirrt an seine Rückkehr glaubt, als von ihrer traditionellen Gesellschaft Verstoßene Jahre lang auf ihren Geliebten wartet, bei dessen später Rückkehr erkennt, daß er inzwischen mit einer Amerikanerin verheiratet ist, ihr Kind hergeben muß und schließlich in den Tod geht, das alles ist nicht leicht zu ertragen, wenn man sich nicht von Folklore-Kitsch ablenken lassen kann und zudem auf der Bühne eine derart rückhaltlose Identifikation der Protagonistin mit ihrer Figur erlebt. Dazu wäre der übliche Puccini-Breitwandsound unpassend. Antonello Manacorda lenkt dagegen im Orchestergraben mit hochmotivierten Musikern kongenial den Blick auf die Struktur der Partitur und deren differenzierte Abstufung der Klangfarben. Selten hat man bei Puccini so interessiert auf den Orchestersatz gelauscht und selten hat man dabei so viel zu entdecken. Auch hier gibt es keine Sentimentalität, keine Kulinarik, keine italo-japanische Klangtapete. Diese Butterfly ist auch musikalisch konsequent entfettet worden, ohne dabei akademisch trocken zu wirken. Nachdem Manacorda nun seine Puccini-Psychose derart erfolgreich therapiert hat, könnte er sich eigentlich unerschrocken die Tosca vornehmen. Wir sind gespannt.

Michael Demel / 24. Mai 2022

© der Bilder: Barbara Aumüller