Frankfurt: „Fedora“, Umberto Giordano (Premierenkritik)

Premiere am 3. April 2022

Musterhafte Produktion einer disparaten Verismo-Oper

In seinem voluminösen, fünfbändigen Referenzwerk „Die Kunst der Oper“ läßt Ulrich Schreiber kaum ein gutes Haar an Umberto Giordanos Verismo-Oper Fedora. Die Einrichtung des zur Entstehungszeit erfolgreichen Theaterstücks von Victorien Sardou für die Opernbühne sei „nicht gerade eindrücklich“ geraten. Der erste Akt sei sogar insgesamt „mißglückt“, der Komponist habe für dessen Parlandi kein „musikalisches Triebmittel“ gefunden. Der „Überhang an dialogischer Konversation“ habe eine „leerläuferische Wirkung“. Die existenzielle Auseinandersetzung an einer zentralen Stelle des zweiten Aktes – Fedora entlockt dem Mann, in den sie sich gerade verliebt hat, das Geständnis, ihren vormaligen Verlobten erschossen zu haben – klinge „wie ein Salonstück“, weil der Komponist hier den neuartigen Einfall gehabt habe, die Szene ohne Orchesterbegleitung spielen und stattdessen einen Pianisten im Hintergrund Chopin-artige Klaviersolostücke vortragen zu lassen. Derart vorgewarnt staunt der Besucher der aktuellen Premiere an der Oper Frankfurt nicht schlecht, daß ausgerechnet dieser angeblich vollständig mißratene erste Akt zum Glanzstück der Regie gerät. Sehr einnehmend ist schon zu Beginn das optisch attraktive Bühnenbild (Herbert Murauer). Es zeigt einen bürgerlichen Salon in Fin-de-siècle-Anmutung, der vollständig samt den Türen mit fliederfarbenen Stofftapeten bespannt und in vergoldete Holzleisten eingefaßt ist. Der Bühnenprospekt wird bestimmt von einem überdimensionierten Bilderrahmen, dessen Leinwand ebenfalls mit der Stofftapete bespannt ist.

Hierauf läßt Regisseur Christof Loy immer wieder Videos projizieren. Was in anderen Inszenierungen oft ein Ausdruck von szenischer Einfallslosigkeit ist, gerät hier zum Coup. Zunächst gibt es konventionelle Bilder, etwa eine Nahaufnahme der Protagonistin, die lediglich vergrößert, was gerade auf der Bühne geschieht. Auch nichts Neues sind Einblendungen von Erinnerungsbildern, etwa ein Porträt von Fedoras abwesendem Verlobten, während sie gerade von ihm schwärmt. Dann aber nutzt die Regie Livekameras, um das Bühnengeschehen aus anderen, dem Publikum auf der Guckkastenbühne verborgenen Blickwinkeln zu präsentieren und etwa aus sich öffnenden Türen heraus zu filmen oder sogar Parallelaktionen in (vermeintlich) angrenzenden Räumen zu zeigen. Höchst effektvoll wird auf diese Weise das Sterben des verwundeten Verlobten bebildert, samt Nahaufnahmen der Gefühlsregungen Fedoras in Stummfilmästhetik. So kommt es zu faszinierenden räumlichen Weitungen, zugleich zu einem virtuosen Spiel von Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit. Nadja Stefanoff in der Titelpartie erweist sich dabei optisch und darstellerisch als ausgezeichnete Besetzung für die Beglaubigung dieses Amalgams aus vorgefertigten Sequenzen und unmittelbarer Bühnenaktion.

Die von Ulrich Schreiber harsch kritisierte Klaviermusikszene im zweiten Akt wird ebenso werkdienlich wie bühnenwirksam realisiert. Die Leinwand innerhalb des riesenhaften Bilderrahmens hebt sich vorhangartig und gibt den Blick auf einen dahinterliegenden weiteren Salon frei. Dort wird in räumlicher Distanz ein Klaviervirtuose von einer Abendgesellschaft für seine Darbietungen bewundert, während im vorderen Teil der Bühne die vermeintliche Enttarnung des von Fedora begehrten Loris als Mörder ihren Lauf nimmt. Die Entscheidung der Regie für die deutliche räumliche Trennung dieser Parallelaktionen ist dramaturgisch schlüssig und entkräftet das eingangs zitierte Verdikt des Musikwissenschaftlers. Der letzte Akt ist dann handwerklich konventioneller geraten, besticht aber ebenso durch plausible Personenregie und gute darstellerische Leistungen.

Insgesamt hat die Oper mit rund 100 Minuten lediglich Spielfilmlänge. In Frankfurt wird sie ohne Pause durchgespielt. Das verstärkt ebenso wie der Rahmen des Einheitsbühnenbildes den Eindruck von Geschlossenheit und verleiht der Produktion eine Stringenz, die dem Libretto abgeht. Der vermeintliche Mord am Verlobten Fedoras, einer russischen Adligen, ist im ersten Akt der Ausgangspunkt einer Kriminalermittlung. Im zweiten Akt gelingt es Fedora zwar, dem Täter Loris ein Geständnis zu entlocken und ihn und seinen Bruder als mutmaßlichen Mittäter bei der russischen Polizei zu denunzieren. Erst später aber erfährt sie das Tatmotiv: Fedoras Verlobter hatte ein Verhältnis mit Loris‘ Ehefrau. Als Loris die beiden bei einem Tête-à-Tête erwischte, wurde er vom ungetreuen Verlobten angeschossen, erwiderte das Feuer und traf diesen tödlich. Nach Kenntnis der wahren Hintergründe bewahrt Fedora Loris vor der Verhaftung und beginnt mit ihm ein neues Leben in der Schweiz. Doch die Vergangenheit holt sie ein. Durch ihre Denunziation wurde Loris‘ Bruder verhaftet und verstarb im Kerker. Die Nachricht von seinem Tod verursachte bei seiner Mutter einen tödlichen Schlaganfall. Loris erhält die Todesnachricht mit der Information, eine „russische Spionin“ habe die Verhaftung des Bruders bewirkt. Loris sinnt auf Rache. Fedora offenbart sich ihm, sieht ihr Glück jedoch unwiederbringlich zerstört und trinkt vor seinen Augen eine tödliche Dosis Gift.

Anders als Puccini in seiner Vertonung der Tosca, ebenfalls nach einem Theaterstück von Sardou, hat Giordano seiner Titelfigur keine große Wunschkonzertarie gegönnt. Wer auf Youtube die Suchbegriffe „Fedora“ und „Arie“ eingibt, bekommt als Treffer immer nur „Amor ti vieta“ angezeigt, eine Arie des Loris. Jonathan Tetelman singt sie mit allen Attributen eines potenten Spintotenors, kraftstrotzend, höhensicher und mit attraktiver Färbung. Die Oper Frankfurt hat hier einen angehenden Weltstar engagiert mit Exklusivvertrag bei der Deutschen Grammophon. Doch angehender Weltstar hin, Exklusivvertrag her: Der junge Mann mit der blendenden Stimme singt laut, sehr laut. Allzu oft: zu laut, so als wolle er nicht den Zuschauerraum der Frankfurter Oper füllen, sondern die Arena in Verona oder gar die Tribünen samt Bodensee bei den Bregenzer Festspielen, und zwar ohne elektronische Verstärkung. Damit fällt er immer wieder aus dem Gesamtklang heraus, wirkt mitunter wie ein musikalischer Fremdkörper. Das ist schade, denn gelegentlich zeigt er auch, daß er diese Lautstärke nicht nötig hat, daß seine Stimme auch bei zurückgenommener Wucht tragfähig ist. Nadja Stefanoff überzeugt ihm gegenüber trotz kleinerer Stimme musikalisch sehr viel mehr, weil sie ihren klaren, gut geführten Sopran mannigfache Abstufungen in Lautstärke und Klangfarben abgewinnen kann. Womöglich fehlt es ihr an letztem Diven-Glanz, was aber gerade bei dieser Partie weniger ins Gewicht fällt, schon gar wenn stimmliche und darstellerische Mittel sich so gut zu einem rundum überzeugenden und facettenreichen Porträt fügen. Auch wenn es sich bei der Produktion um eine Übernahme von der Königlichen Oper Stockholm handelt, verleiht die Ausgestaltung der Titelfigur durch Nadja Stefanoff dieser Premiere Eigenständigkeit.

Wie man sich trotz kraftvoller Stimme gut in ein Ensemble fügt, demonstriert Nicholas Brownlee als De Sirex. Der junge Baßbariton darf in dieser Spielzeit die ganze Bandbreite seiner Möglichkeiten zeigen, vom donnernden Propheten Jochanaan in der Salome zum Saisonbeginn, über einen markanten Geisterboten in Frau ohne Schatten noch am Vortag der Premiere bis zu den Titelpartien in Król Roger und Herzog Blaubarts Burg am Ende dieser Saison. Der Einsatz im italienischen Fach gelingt ihm musikalisch souverän, und auch an seinen szenischen Aufgaben hat er sichtbares Vergnügen. Bianca Tognocchi ist mit ihrem hellen Soubrettenton auch dieses Mal in der Rolle der Olga für auflockernden Humor zuständig und wird der Partie quecksilbrig-munter gerecht. In einer Unzahl von Klein- und Kleinstrollen bewährt sich das Stammensemble der Oper Frankfurt. Mariusz Kłubczuk, Solorepetitor am Haus, brilliert nicht nur in dem wichtigen Klavierpart im zweiten Akt, sondern fügt sich auch szenisch als Starpianist im Frack und mit Chopin-Frisur gut in das Geschehen ein.

Das Orchester unter der Leitung des jungen italienischen Dirigenten Lorenzo Passerini ebnet die disparaten Elemente der Partitur vom üppigen, puccinesken Sound über Gesellschaftstänze zu Beginn des zweiten Akts bis zu lichteren Klängen beim in der Schweiz spielenden Schlußakt nicht ein. Sehr klar und unsentimental wird das dargeboten, Verismo ohne Schluchzer und Schmalz. Daß aus den gelungenen Einzelteilen kein Ganzes wird, liegt weniger an den Musikern als am Komponisten, dessen Partitur sich zwar experimentierfreudig gibt, der es jedoch an einem unverwechselbaren eigenen Ton mangelt.

Insgesamt hat sich Frankfurt eine starke Inszenierung mit attraktiver Ausstattung ins Haus geholt und in allen Partien rollendeckend besetzt. Wenn in den Folgevorstellungen der angehende Startenor seine Lautstärke noch in den Griff bekommt, bietet sich allen Freunden saftiger italienischer Verismo-Opern die Gelegenheit, ein selten gespieltes Stück in einer geradezu musterhaften Produktion zu erleben.

Michael Demel / 6. April 2022

© der Bilder: Barbara Aumüller