Bericht von der Premiere am 8. September 2019
Fulminanter Saisonauftakt mit einer Belcanto-Rarität
In der Vorberichterstattung zur ersten Premiere der neuen Saison an der Oper Frankfurt war ein Hang zum Superlativ zu beobachten. Eine „Oper mit fünf Tenören“ wollte die BILD-Zeitung als kleine Sensation verkaufen. Im aktuellen Produktionsvideo spricht der Intendant sogar von sechs Tenören. BILD hat trotzdem richtig gezählt: zwei (winzige) Nebenrollen wurden zusammengelegt und einem einzigen Sänger anvertraut. Nüchtern betrachtet kann man von immerhin drei tragenden Tenorpartien sprechen, was außergewöhnlich genug ist. Diese drei Partien sind in der Neuproduktion ausgezeichnet besetzt. Da ist zunächst Enea Scala in der Titelpartie. Gleich bei seinem ersten Einsatz trumpft er derart imponierend auf, daß man meint, er wolle sich mit Rossinis Otello gleich noch für die Titelpartie in Verdis gleichnamigem und erheblich populärerem Spätwerk bewerben. Virile Spintoqualitäten und ein raumgreifendes Volumen hinterlassen einen starken Eindruck. Die belcantotypischen akrobatischen Koloraturen und Auszierungen werden mit großem Aplomb serviert. Scala packt den Stier gleichsam bei den Hörnern und schleudert seine Töne unerschrocken in den Zuschauerraum.
Theo Lebow (Jago) und Enea Scala (Otello)
Rossini hat seinen Rivalen Rodrigo musikalisch ebenbürtig ausgestattet. Wenn der junge amerikanische Tenor Jack Swanson in dieser Partie zum ersten Mal die Bühne betritt, ahnt man noch nicht, daß dieser unscheinbare Collegeboy es locker mit dem Sänger der Titelpartie aufnehmen kann. Seine Stimme ist heller und klingt zunächst weniger individuell. Bei der ersten Arie jedoch läuft Swanson zu einer Form auf, daß einem der Mund offen stehen bleibt. Zu hören ist eine geradezu ideale Belcantostimme, leichtgängig, perfekt fokussiert, mit einer unfaßbaren Geläufigkeit und einem silbernen Timbre ausgestattet. Man greift kaum zu hoch, wenn man ihn mit den besten seines Faches, etwa Juan Diego Flórez, vergleicht und ihm eine glänzende internationale Karriere voraussagt. Zusammen mit dem dritten im Bunde, Theo Lebow als intriganter Jago, lösen sie ein Versprechen ein, welches Intendant Bernd Loebe bei der Vorstellung des neuen Spielplanes abgegeben hatte: Sie schleudern sich die Koloraturen um die Ohren, daß es eine Lust ist. Man freut sich für das Ensemblemitglied Lebow, daß er endlich einmal in einer tragenden Partie besetzt ist, die sein Potenzial ausschöpft. Seine Stimme verfügt über eine charakteristische edel-herbe Färbung, die in den üblichen lyrischen Tenorpartien nur unzureichend zur Geltung kommt. Daß er über eine ausgezeichnete Technik gerade für Koloraturen verfügt, weiß man seit seinem Einsatz in Mozarts frühem Oratorium Betulia liberata. In einer Schlüsselszene schmiegt sich seine Stimme derart perfekt an die vokalen Höhenflüge von Jack Swanson an, daß man das Ganze für ein Liebesduett zweier Männer halten könnte. Und prompt läßt der Regisseur die Arie mit einem Kuß der beiden Tenöre enden. Abgerundet wird diese Boygroup von der ausgezeichneten Mezzosopranistin Nino Machaizde in der Rolle der Desdemona. Hat man bei den ersten Tönen noch die Befürchtung, die Stimme könnte zu reif und zu fruchtig sein, wird man bald eines Besseren belehrt. Die Sängerin verfügt nicht nur über eine geläufige Gurgel, sondern auch über eine große Bandbreite an Zwischentönen. Wunderbar innig gerät ihr im dritten Akt das Lied von der Weide. In dieser Art der Darbietung möchte man Rossinis Version des Liedes der berühmteren Fassung von Verdi mindestens für ebenbürtig halten.
Jack Swanson (Rodrigo), Enea Scala (Otello) und Nino Machaidze (Desdemona)
Nach der ersten Talentprobe in Menottis Medium macht erneut Kelsey Lauritano mit ihrem samtig-warmen und dabei jugendlich-blühenden Mezzosopran in der kleinen Rolle der Emilia auf sich aufmerksam. Kaum zu glauben, daß sie gerade erst ins Opernstudio aufgenommen wurde. Diesem scheint sie bereits jetzt entwachsen zu sein. Thomas Faulkner überzeugt mit seinem wohlklingenden Baßbariton in der Rolle des Elmiro. Die beiden restlichen der fünf Tenöre sind rollenadäquat besetzt mit dem Charaktertenor Hans-Jürgen Lazar als greisenhaftem Doge und dem sanften lyrischen Tenor Michael Petrucceli als Lucio.
Gastdirigent Sesto Quatrini hat in einem Pressegespräch vor der Premiere tiefgestapelt, was die Rolle des Orchesters angeht. Zu hören ist unter seiner Leitung eine ausgefeilte Komposition mit interessanten Klangfarben und einer durchaus individuellen Textur. Das Opernorchester ist in guter Form und setzt die Partitur schwungvoll und mit geradezu vibrierender Lebendigkeit um. Ausgedehnte Orchestervorspiele geraten zu Glanzstücken mit delikaten Instrumentalsoli.
Die szenische Umsetzung dieser Rarität durch den jungen Regisseur Damiano Michieletto am Theater an der Wien im Jahr 2016 hatte Intendant Loebe derart überzeugt, daß er die Produktion kaufte und an die Bedingungen seines Hauses anpassen ließ. Zu diesem Einkauf kann man die Oper Frankfurt nur beglückwünschen. Sie paßt ausgezeichnet in das Portfolio eines Repertoires, das von Regisseuren wie Christof Loy und Claus Guth geprägt wird. Wie bei diesen zeichnen sich die Arbeiten des Italieners durch eine intelligente Durchdringung eines Stoffes, die Freilegung seines Kerns, sinnfällige optische Lösungen und eine ausgefeilte, psychologisch erhellende Personenregie aus. Dabei geht das hohe intellektuelle Niveau nie zulasten der Bühnenwirksamkeit.
Theo Lebow (Jago), Enea Scala (Otello; auf dem Tisch liegend), Kelsey Lauritano (Emilia), Jack Swanson (Rodrigo) und Thomas Faulkner (Elmiro Barberigo) sowie im Hintergrund Ensemble
In der vorliegenden Regiearbeit hat Michieletto mehrere Probleme der Vorlage umschifft. Da ist zunächst die banale Dramaturgie des Librettos, welches statt der spannenden Disposition von Shakespeares Tragödie bloß Eifersuchts-Dutzendware aus dem Librettisten-Baukasten des frühen 19. Jahrhunderts liefert. Der Regisseur korrigiert die Fehlentscheidung des Librettos, die Figur des Jago zu banalisieren, und reaktiviert das Urbild von Shakespeares diabolischem Intriganten und Strippenzieher. In Theo Lebow hat er dafür den idealen Darsteller gefunden, der durch sein intensives Spiel und eine enorme Bühnenpräsenz diesen Charakter zur Hauptrolle erhöht. Sodann nimmt der Regisseur eine leichte Transformation der Grundkonstellation vor. Aus dem Feldherrn Otello ist ein Geschäftsmann geworden, aus dem Farbigen ein arabischer Muslim. Damit entgeht der Regisseur der Peinlichkeit des Blackfacings, bei dem ein Weißer mit Schminke zum Farbigen gemacht werden muß. Letztlich geht es nämlich um kulturelles Außenseitertum. Da ist die Präsentation eines arabischen Muslims in einer westlichen Gesellschaft mindestens so plausibel wie die eines Mohren in Venedig. Raffiniert greift die Regie aber das Schwarzmachen am Ende des ersten Aktes auf, in dem auf einem Festbankett Otello sich zunächst mit einer braunen Masse die Kleidung beschmiert und schließlich auch die anwesende Festgesellschaft nach und nach besuldet wird, bis die Szene in einer regelrechten Schlammschlacht endet. Bis zur überraschenden Schlußwendung im letzten Akt (die hier nicht verraten werden soll) erzeugt der Regisseur eine nicht nachlassende Spannung, die diesen Abend auch zu einem szenischen Genuß macht.
Mit der Übernahme dieser glänzenden Produktion in einer fabelhaften Sängerbesetzung ist der Einstieg in die neue Saison fulminant gelungen.
Weitere Vorstellungen gibt es am 21. und 29. September sowie am 3., 12. und 20. Oktober.
Michael Demel, 15. September 2019
© der Bilder: Barbara Aumüller