Musikalisch sehr erfreulicher Opernalltag!
Die Oper Graz hat sehr rasch und effektiv die Chance genutzt, dass wieder vor Publikum gespielt werden kann: am ersten möglichen Tag, nämlich am 19.Mai gab es die sehr positiv aufgenommene Ballett-Premiere Tan(z)Go, dann folgte die Wiederaufnahme der eindrucksvollen Produktion von Weinbergs Passagierin – und nun sozusagen der Opernalltag mit der Wiederaufnahme einer Produktion aus der Saison 2017/18. Le nozze di Figaro ist ausschließlich mit Kräften des Hauses besetzt – von der Besetzung der Premiere im November 2017 sind an diesem Abend nur Bartolo, Antonio und Curzio geblieben. Alle anderen Partien einschließlich des Dirigenten sind neu aus dem Ensemble besetzt. Die Wiederaufnahme wurde von der Kritik freundlich aufgenommen (siehe z.B. Online-Merker und Bachtrack). Ich habe die zweite Vorstellung besucht, diesmal kurzfristig mit einem Debütanten als Conte.
Vorweg: man kann der Grazer Oper sehr gratulieren – da wird wertvolle Ensemblepflege und – weiterentwicklung betrieben!
Wenden wir uns zunächst der Inszenierung von Maximilian von Mayenburg im Bühnenbild von Stephan Prattes und in den grell-illustrativen Kostümen von Gabriele Jaenecke zu – diesmal vom jungen Florian Kutej neu einstudiert.
Mein Grundeinwand gegen die aktionistische Inszenierung aus meiner Besprechung vom November 2017 bleibt aufrecht: „Es ist einfach zu viel, was da in da Ponte und Mozart zusätzlich in den rasanten Handlungsablauf hineingestopft wird: der tote blutige Soldat, dessen Uniform dem armen Cherubino übergestreift wird, die vernehmlich betätigte WC-Spülung, das alkoholreiche und degenerierte Hochzeitsfest (anstelle des Fandango-Tanzes), die Riesenuhr (die geradezu störend von der wunderschön gesungenen zweiten Gräfinnen-Arie ablenkt!), das revoltierende Personal, die eingebaute Marionetten-Idee Susanna/Figaro, und die Bauern, die letztlich mit roten Jakobinermützen und der Guillotine auf das Grafenpaar warten…..“ Und das in einem nach allen Seiten offenen, sich ständig drehenden – und daher akustisch ungünstigen – grell-weißen Playmobil-Schloss, durch dessen drei Etagen das Ensemble samt einer großen Statistenschar ständig hasten muss. Nein – mit dieser Inszenierung ist kein Staat zu machen. Allerdings hat Florian Kutej in seiner Neueinstudierung in erfreulicher Weise dafür gesorgt, dass die ursprünglich karikierende und slapstickartige Personenführung durch eine natürlich-lebhafte Zeichnung der handelnden Personen ersetzt wurde. Das versöhnt ein bisschen! Die jugendliche Spielfreudigkeit des Ensembles und vor allem die musikalischen Leistungen sicherten letztlich einen Opernabend auf beachtlichem Niveau.
Beginnen wir mit den Damen:
Die 31-jährige Serbin Sonja Šarić ging aus dem Grazer Opernstudio hervor und hatte schon in der ursprünglichen Produktion einige Male die Contessa übernommen können. Sie verfügt über ein reiches, sehr schön timbriertes Material, das sie sehr gepflegt einzusetzen weiß. Beide große Soloszenen gelingen ihr ausgezeichnet – eine absolut rollendeckende Besetzung!
Sieglinde Feldhofer ist seit vielen Jahren eine beliebte Ensemblestütze der Oper Graz. Das Publikum liebte sie zunächst vor allem als Operetten- und Musical-Darstellerin – inzwischen hat Feldhofer klug und erfolgreich ihr Repertoire Schritt für Schritt auch in der Oper erweitert. Nach Gretel, Musetta, Zerlina ist sie 2019 erfolgreich in Humperdincks Königskinder als zentrale Gänsemagd eingesprungen und vor kurzem hatte sie in einem Online-Wunschkonzert der Oper Graz Flotows Martha gesungen. Die Susanna hatte sie in dieser Produktion schon einige Male als Zweitbesetzung gesungen – nun ist sie vollends in diese Rolle hineingewachsen. Schien sie mir in den ersten beiden Duettinos mit Figaro in Stimme und Artikulation noch ein wenig vorsichtig zurückhaltend, steigerte sie sich im Laufe des Abends zu einer hervorragenden Gesamtleistung in bester österreichischer Mozart-Tradition. Da passten lebhaftes Spiel, klare Artikulation, absolute Intonationssicherheit und lyrische Gesangsbögen ideal zusammen. Ein wunderbares Beispiel dafür war die ganz schlicht, liedhaft und ohne jegliche Manierismen gesungene Rosenarie – brava! Die Oper Graz kann sich freuen, derzeit zwei ideale Susannas aufbieten zu können und das Publikum kann sich auf die Marie in Smetanas Verkaufter Braut freuen, deren Premiere coronabedingt auf die nächste Spielzeit verschoben werden musste.
Die dritte zentrale Frauenpartie ist der Cherubino – diesmal besetzt mit der jungen rumänischen Mezzosopranistin Antonia Cosmina Stancu . Das war eine ungewohnte Bubenfigur. Man erlebte nicht die übliche androgyne Erscheinung, sondern eine pausbäckige barocke Putto-Figur, die aber in ihrer pubertäreren Lebhaftigkeit durchaus überzeugend war. Stimmlich zeigte Stancu schönes und bewegliches Mezzomaterial, das an Intonationssicherheit und Prägnanz noch dazu gewinnen wird.
Bei den Herren dominierte klar der noch nicht dreißigjährige bosnische Bariton Neven Crnić Mit gesunder, dunkelgefärbter Baritonstimme eroberte er sich nach dem Leporello eine zweite wichtige Mozartpartie. Ganz selten vermisste man die von Mozart vorgesehen Bass-Stimme – geschickt oktavierte Crnić z.B. im Sextett des 3.Akts ganz einfach (und durhaus legitim) das tiefe F. Sein Figaro war noch ein etwas eindimensional-kraftvoller Kerl. Mit zunehmender Rollenroutine wird Crnić sicher auch die schlitzohrig-schlaue Facette dieser Figur in Artikulation und Spiel herausarbeiten können. Aber insgesamt keine Frage: Susanna und Figaro waren der souveräne und überzeugende Angelpunkt des Abends. Sehr erfreulich ist zu registrieren, welch große Fortschritte Crnić weiterhin macht, seit er 2017 im Opernstudio der Oper Graz begonnen hatte.
À propos Opernstudio :
Daraus sind nicht nur die Contessa und der Figaro dieses Abends hervorgegangen, ganz kurzfristig erhielt auch das derzeitige Mitglied Thomas Essl seine Chance und übernahm die Partie des Conte – das war so kurzfristig, dass es von ihm gar keine Szenenfotos gibt. Aber auf dem folgenden Foto sieht man sowohl ihn als auch Cherubino und Basilio:
Einem Bericht im Online-Merker entnimmt man, dass Thomas Essl im Meisterkurs Ende 2019 mit Kammersängerin Anna Tomowa-Sintow an der Grafen-Arie gearbeitet hatte. Und es sei festgestellt, dass gerade mit dieser Szene Thomas Essl am heutigen Figaro-Abend auf der großen Bühne erstmals stimmlich Fuß gefasst hatte. Speziell im 1. und 2. Akt blieb er noch recht blass, nicht ganz intonationssicher – eben deutlich ein Debütant in einer großen Rolle auf einer großen Bühne. Nach der gelungenen Grafen-Arie wirkte er wesentlich sicherer und gewann stimmlich an Profil. Die Stimme ist schön timbriert, in der Tiefe (und auch in der Höhe) fehlt es noch an der nötigen Substanz. Es ist ihm zu wünschen, dass er einen ähnlich erfolgreichen Weg aus dem Opernstudio wie Neven Crnić nehmen möge. Exzellent in Stimme und Spil war diesmal ein weiteres Opernstudio-Mitglied, nämlich Mario Lerchenberger als Basilio, sodass man den Strich seiner Arie im 4.Akt bedauerte. In den weiteren kleineren Rollen waren die Routiniers Wilfried Zelinka als Bartolo und David McShane so wie schon vor vier Jahren ausgezeichnet. Auch die neuen Damen Mareike Jankowski als Marcellina und Paulina Tuzińska als Barbarina bewährten sich.
Die insgesamt überwiegend sehr positiven Gesangsleistungen waren zweifellos vor allem auch deshalb möglich, weil der 30-jährige Marcus Merkel ein ganz hervorragender musikalischer Leiter des Abends war. Marcus Merkel dirigierte wie bei all seinen Auftritten auswendig und begleitete auch die Rezitative selbst vom Hammerklavier aus. Er führte seine Sängerschar immer sehr rücksichtsvoll, ohne dabei je die nötige Intensität zu verlieren – großartig, wie er z. B. die beiden großen Finali im 2. und 4.Akt spannungsvoll aufbaute. Die im Orchestergraben sehr hoch sitzenden Grazer Philharmoniker spielten höchst konzentriert und in den Instrumentalsoli der Holzbläser sehr nuanciert. Auch die Hörner spielten – mit einem einzigen geradezu peinlichen Ausrutscher im 2. Akt – erfreulich klar und klangschön. Die bange Frage blieb nur: wie lange wird Graz den hochbegabten Marcus Merkel noch halten können?? Ich kann uneingeschränkt das bestätigen, was vor einem knappen Jahr Klaus Billand in einem lesenswerten Interview geschrieben hatte: “Ich glaube fest daran, dass Marcus Merkel ein ganz großes Talent am europäischen Dirigenten-Himmel ist und sehr weit kommen wird. Wir wünschen ihm für sein sicher interessantes und anspruchsvolles weiteres Schaffen viel Erfolg.“
Das erfreulich junge Publikum spendete reichen und verdienten Beifall mit Bravo-Rufen. Derzeit dürfen coronabedingt die Plätze im Parterre und in den Rängen nur im Schachbrettmuster vergeben werden- die waren offenbar alle vergeben. Da zusätzlich praktisch alle Logen besetzt waren, hatte man doch den Eindruck einer sehr gut besuchten Vorstellung. Dank der musikalischen Leistungen war es ein großartiger Opernabend, bei dem man die Corona-Mühsal des Maskentragens gerne auf sich nahm – das Live-Erlebnis kann einfach durch noch so spektakuläre Online-Streams nicht ersetzt werden!
Hermann Becke, 6. 6. 2021
Probenfotos: Oper Graz, © Werner Kmetitsch
Hinweise:
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Hörenswerter Podcast: Dramaturg Bernd Krispin im Gespräch mit Tetiana Miyus, Sieglinde Feldhofer und Neven Crnić über „Le nozze di Figaro“
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Noch vier Vorstellungen am 12., 20., 23. und 25. Juni – sehr empfehlenswert!