Graz: „Die Passagierin“

Überaus bewegende Saisoneröffnung

Diese 1968 entstandene Oper des polnisch-jüdischen Komponisten Mieczysław Weinberg (1919 – 1996) erlebte erst 2010 unter Teodor Currentzis bei den Bregenzer Festspielen ihre szenische Uraufführung und damit auch ihren internationalen Durchbruch. Wie man der Verlagsankündigung entnehmen kann, gab es seither weltweit 19 weitere Produktionen. Die Oper Graz bietet nun die zwanzigste Inszenierung, die eigentlich schon im März dieses Jahres ihre Premiere hätte haben sollen, aber Corona-bedingt nach der Generalprobe abgesagt werden musste. Mit dieser Produktion eröffnete nun die Oper Graz effektvoll die Saison 2020/21.

Dieses Werk sollte auf dem Spielplan sämtlicher Opernhäuser stehen.

So endete eine Kritik der Dresdner Premiere des Jahres 2017. Und dieser Empfehlung kann ich mich uneingeschränkt anschließen! Die Passagierin ist zweifellos ein zentrales Werk des 20. Jahrhunderts. Auf der Grundlage des Romans der Auschwitz-Überlebenden und heute 97-Jährigen Polin Zofia Posmysz sowie des Textbuches von Alexander Medwedew gelang Weinberg eine tiefberührende und gleichzeitig bühnenwirksame, aber nie vordergründig plakative Oper wider das Vergessen des Vernichtungsgrauens. Der Oper Graz gelang dank einer ausgezeichneten musikalischen Gesamtleistung und starker Bühnenpersönlichkeiten bis in die kleinsten Rollen eine eindrucksvolle und das Publikum merklich berührende Interpretation. Die szenische Umsetzung (Inszenierung: Nadja Loschky, Bühne: Etienne Pluss, Kostüme: Irina Spreckelmeyer, Licht: Sebastian Alphons) war in sich schlüssig, wenn auch so macher Einwand nicht verschwiegen werden soll.

Die Grazer Inszenierung führte zusätzlich zu den beiden vorgegebenen Zeitebenen – die 60er-Jahre auf der Schiffsreise und die 40er-Jahre in Auschwitz – die Gegenwart ein. Dazu die Regisseurin: Wir haben uns im Laufe der Arbeit dafür entschieden, eine weitere Figur einzuführen, eine gealterte Lisa, die in der heutigen Gegenwart angesiedelt ist. Diese Kunstfigur ist omnipräsent – bereits vor dem Vorspiel tritt sie auf die Bühne, um den Raum zu putzen. Durch ihre Omnipräsenz schafft sie meiner Meinung nach keinen neuen Blickwinkel auf das Stück, sondern lenkt durch permanente Geschäftigkeit vom Geschehen ab und nimmt der Hauptfigur Lisa geradzu die Möglichkeit, das Erinnern und das Wechseln zwischen zwei Welten glaubhaft zu vermitteln. Ein weiteres für die (einfach zu viel wollende) Inszenierung bezeichnendes Detail: Die drei SS-Männer werden zu Beginn des 2. Bildes durch karikaturhafte Überzeichnung ihrer Bedrohlichkeit beraubt. Die szenische Anweisung sieht so aus: Auf der Unterbühne ein Platz in Auschwitz. Ringsum Baracken, Wachtürme, Betonpfeiler, Scheinwerfer, Stacheldraht… Morgenappell der Gefangenen, die Aufseher schreien die Nummern. Abseits unterhält sich eine Gruppe SS-Männer über das triste Lagerleben, das aber immer noch besser als die Ostfront sei Und so setzt das die Regisseurin in der Grazer Produktion um:

Aber auch die positiven Seiten der Inszenierung seien erwähnt: z. B. sind die Selektion von vier Mitgefangenen zur Hinrichtung im 6. Bild und die Ermordung des geigenspielenden Tadeusz im 8.Bild zwar sehr drastisch, aber nie unsensibel gestaltet. Das berührt zutiefst. Alle Szenen spielen in einem Einheitsbild, laut Regisseurin in einer Art „Archivraum“ – da verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und den stets hochkommenden Erinnerungen von Lisa. Die KZ-Insassinnen mischen sich unter die Schiffsgäste – insoferne verschmelzen alle Bilder insgesamt zu einem bedrohlich-intensivem und albtraumartigem Ganzen, dem sich das Publikum nicht entziehen kann. Das Stück und die expressionistische Musik Weinbergs – erinnernd an Schostakowitsch, aber auch an Britten – sind so stark, dass sich trotz einiger Einwände gegen die Inszenierung durch die Intensität der musikalischen Interpreten geradezu eine Sogwirkung einstellt, die die dreistündige Aufführungsdauer in keiner Phase lang werden lässt.

Die Oper Graz verfügt über ein geradezu exzellentes Solistenteam. Da ist für mich an erster Stelle die großartige Nadja Stefanoff als Marta zu nennen. Sie ist nicht nur eine herbe, schlank-aufrechte Erscheinung mit großer Bühnenpräsenz. Sie singt die die geheimnisvolle Passagierin auch mit einem klaren, in allen Lagen und dynamischen Abstufungen technisch sehr gut geführtem Sopran – eine große Leistung! In den dramatischen Ausbrüchen ist ihr Dshamilja Kaiser als Lisa eine ebenbürtige Partnerin. In den lyrischen Passagen des Beginns wurde die Stimme noch nicht ganz ruhig geführt – aber auch Kaiser bietet ein große und rollendeckende Lestung. Wie schön, dass das Grazer Publikum in dieser Rolle ihre Weiterentwicklung erleben durfte, war sie doch von von 2009 bis 2017 ein hochgeschätztes Ensemblemitglied der Oper Graz und wurde dementsprechend beim Schlussapplaus akklamiert. Markus Butter verkörperte überzeugend den viril-aufrechten Tadeusz, den er schon 2017 erfolgreich an der Semperoper Dresden gesungen hatte. Für Graz neu war der Tenor

Will Hartmann, der markant-charaktervoll Lisas Ehemann gestaltete. Einheitlich großartig waren die weiblichen Mithäftlinge Martas besetzt.

In der Reihenfolge des Programmzettels seien sie ausdrücklich alle namentlich angeführt: Tetiana Miyus als Katja mit ihrem geradezu engelgleich-klarem Solo am Ende des 6. Bildes, Antonia Cosmina Stancu (Krystina), Anna Brull (Vlasta), Mareike Jankowski (Hannah), Sieglinde Feldhofer (Yvette) und Joanna Motulewicz (Bronka). Sie alle gestalteten ihre kurzen solistischen Einwürfe ausgezeichnet und waren auch glaubhafte und engagierte Bühnenfiguren. Martin Fournier, Ivan Oreščanin und David McShane waren die bereits oben erwähnten drei SS-Männer. Mit ihre großen Routine waren sie selbst in der überzeichnenden Regie stimmlich und darstellerisch prägnante Charaktere ebenso wie die Oberaufseherin Uschi Plautz und der unverwüstliche Konstantin Sfiris als Älterer Passagier. Weitere kleine Rollen waren rollendeckend und kompetent aus dem Chor der Oper Graz besetzt, der auch diesmal seinen Part unter der Leitung von Bernhard Schneider klangschön und präzise umsetzte.

Die musikalische Leitung hatte der neue Grazer Chefdirigent Roland Kluttig übernommen. Ursprünglich hatte bis zur Generalprobe seine Vorgängerin Oksan Lyniv die Einstudierung geleitet. Nun hatte Ronald Kluttig nach Lynivs Abgang die Proben ab Herbst geleitet und mit den sehr gut disponierten Grazer Philharmonikern für eine ausgewogenene und konzise Interpretation gesorgt. Da standen mächtige Klangeruptionen zwischen fein austarierten lyrischen Passagen – stets wurde die Balance zwischen Orchester und Bühne gewahrt.

Es war ein großer Abend der Oper Graz, der das Ende einer sechsmonatigen Corona-bedingten Pause markierte. Die Oper Graz hatte ein minutiöses Sicherheitskonzept entwickelt: Das Publikum sass im Schachbrett-Muster auf allen drei Rängen, deren Zugänge voneinander getrennt waren. Die Logen waren alle besetzt und man erlebte veritables Premieren-Feeling! Als Besucher hatte man keinerlei Gefühl der Unsicherheit – das Abstandhalten fiel leicht. Möge die Entwicklung der Corona-Pandemie weiterhin Aufführungen in der diesmal gewählten Form ermöglichen. Das Live-Erlebnis einer Operaufführung ist einfach durch nichts zu ersetzen- Die Intensität der Saisoneröffnung ließ die Corona-Beschränkungen vergessen und es wurde einem die Richtigkeit des Nietzsche-Wortes bewusst: Ohne Musik – und ich füge hinzu: ohne Musiktheater – wäre das Leben ein Irrtum!

Hermann Becke, 19. 9. 2020

Szenenfotos: Oper Graz © Werner Kmetitsch

Hinweise:


10 weitere Vorstellungen bis Dezember 2020 – unbedingt besuchen!!


Dankbar registriere ich, dass die Oper Graz erstmals noch unmittelbar vor der Premiere ihren 8-minütigen Produktionstrailer öffentlich machte – wie oft hatte ich moniert, dass die Oper Graz ihre Trailer immer erst lange nach der Premiere präsentierte…. Der Trailer vermittelt in einem ausführlichen Gespräch mit der Marta-Darstellerin Nadja Stefanoff und in Probenausschnitten einen ausgezeichneten Einblick in die Produktion – unbedingt ansehen!