Graz: „Martha“

Premiere am 12. 1. 2019

Optischer Prunk im Irrenhaus

Friedrich von Flotows „Martha oder Der Markt zu Richmond“ – als Auftragswerk in Wien komponiert und 1847 im Kärntnertortheater uraufgeführt – war bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg im Spitzenfeld internationaler Aufführungsstatistiken. Dann ist es lange Jahre um dieses Werk ein wenig still geworden. Aber in den letzten Jahren gibt es eine veritable Martha-Renaissance: zuletzt gab es Aufführungen u.a. in Frankfurt, in Regensburg, in Detmold (hier sogar mit dem begehrten Opernfreund-Stern ausgezeichnet!), in Innsbruck (im Online-Merker recht gelobt) und derzeit zeitgleich zu Graz auch im Münchner Gärtnerplatz-Theater mit Loriots legendärer Inszenierung, die dort seit ihrer Premiere im Jahre 1997 schon weit über hundertmal zu sehen war. In Graz stand das Stück zuletzt vor 37 Jahren auf dem Spielplan – da war es durchaus an der Zeit, Martha wieder auf den Spielplan zu setzen und einen zeitgemäßen Interpretationsansatz zur Diskussion zu stellen.

Nun – aus Graz ist nicht allzu Positives zu berichten. Der erfahrene Regisseur und Autor des deutschen musikalischen Unterhaltungstheaters Peter Lund hat das Stück in das „Bethlem Royal Hospital“ ins London des Jahres 1748 verlegt, woselbst man Menschen findet, welche aus ihrem Verstande gefallen sind“. Das liest man nicht nur im Programmheft, sondern auch bereits zu Beginn der Ouvertüre auf einer Projektion. In einem Interview äußerte der Regisseur: Ich weiß nicht, ob die Irren im Barock schon Theater gespielt haben – wir kennen das jetzt als Therapieform, heutige Psychiatrien arbeiten sehr viel damit. Wir haben uns einfach den Kunstgriff gegönnt, dass der Markt von Richmond von den Irren des Bethlem-Hospitals dargestellt ist, und das gibt uns natürlich die Freiheit, ein bisschen von der Historie wegzugehen.

Da der Regisseur einerseits seinem Publikum offenbar nicht zutraut, dass es der handwerklich brillant aufgebauten Ouvertüre Flotows in der Länge von über acht Minuten bei geschlossenem Vorhang und ohne optische Reize zuhören will oder kann, und da er andererseits gleich seinen „Kunstgriff“ umsetzen will, erlebt man während der Ouvertüre eine graue, von geistlichen Schwestern betreute Irrenanstalt, durch die ein Tänzer – offenbar als Lyonel-Alter-Ego – schwebt, und in die adelige Anverwandte und Schaulustige auf Besuch kommen.

Nach der Ouvertüre – übrigens von den Grazer Philharmonikern recht robust, aber klangschön und effektvoll gespielt – dreht sich das Bühnenbild. Offenbar ist die Irrenanstalt in einem Frauenstift untergebracht. Im Wohnteil dieser Anstalt lebt die adelige Lady Harriet mit ihrer Vertrauten Nancy. Die beiden sitzen unter einem Bild von Richmond beim Tee und anstelle der im Original vorgesehenen Dienerinnen treten die geistlichen Schwestern auf, die gemeinsam mit Nancy versuchen, die melancholisch gelangweilte Lady aufzuheitern („Ach, so traurig ach, so trübe schleicht im Glanz mein Leben hin“) Dies gelingt ihnen ebenso wenig wie dem dazukommenden Cousin und Verehrer Lord Tristan – eine schauspielerisch und stimmlich souveräne Gestaltung von Wilfried Zelinka, dem es auch diesmal gelingt, eine von der Regie vorgegebene Überzeichnung mit Eleganz umzusetzen. Die Aktionen sind einer biedermeierlich „romantisch-komischen Oper“ (so Flotows Originalbezeichnung) adäquat und die Kostüme sind prächtig-barock – ganz im Stile des sozialkritischen englischen Malers des 18. Jahrhunderts William Hogarth. Da denkt man sich als geneigter Beobachter noch, man werde eine Aufführung in der gewohnten, ein wenig abgegriffenen Spieloper-Tradition erleben.

Aber dann wird die Irrenanstalt-Idee konsequent weitergeführt: die Insassen „spielen“ grimassierend, sich ständig am Kopf kratzend und sich konvulsivisch bewegend die Marktszene – und da wird vorsichtshalber auch in den Text eingegriffen, wie man dank Übertitel registrieren kann. Es ist ein hektisches Spektakel, das nicht zur bieder-heiteren Musik passt und in dem sich die vier Hauptfiguren – Lady und Nancy (nun als Martha und Julia) sowie Lyonel und Plumkett eher hilflos bewegen. Es erschließt sich nicht, wie die Irrenhaus-Szenerie mit der im Libretto vorgesehenen Handlung zusammenpasst. Der 2. Akt spielt dann wieder durchaus konventionell in Plumketts Haus. Da wird zwar glaubwürdig die entstehende Zuneigung zwischen Plumkett und Nancy vermittelt, aber wie und warum sich Liebe zwischen der eher spröd-zickigen Lady/Martha und dem lethargisch-melancholische Lyonel entwickelt, bleibt völlig unklar. Und in diesem Bild wird auch offenbar, dass diesmal die musikalischen Leistungen nicht über die misslungene Inszenierungsidee hinwegtrösten können. Ursprünglich war für die Partie der Martha das Ensemblemitglied Tetjana Miyus vorgesehen. Die hat allerdings eben einen Sohn geboren (herzlichen Glückwunsch!) und so wurde an ihrer Stelle die britisch-schweizerische Sopranistin Kim-Lillian Strebel engagiert, die die Partie zwar mit gebührender Koloraturen-Geläufigkeit, aber mit doch recht spröder Stimme und ohne große Legatobögen in den breitausladenden lyrischen Passagen sang. Noch dazu war sie offenbar durch die Regie angehalten, seelenlos-spitz zu wirken. Nancy war das beliebte Ensemblemitglied Anna Brull, die zwar durch natürlich-charmante Spielfreude auffiel, der aber die Partie stimmlich ganz einfach nicht liegt. Der beweglichen und höhensicheren Stimme fehlt die hier nötige Substanz in der Tiefe. Der in Wien aufgewachsene und ausgebildete Türke Ilker Arcayuerek ist nicht das, was das Programmheft zu Recht für den Lyonel reklamiert. Man tut dem jungen begabten Gestalter des deutschen Liedes nichts Gutes, wenn man ihn in einer Fachpartie italienischer lyrischer Tenöre besetzt. Es fehlt ihm das nötige Volumen und der Glanz der Spitzentöne – sowohl im Schlager Martha, Martha, du entschwandest als auch vor allem im großen Ensemble des 3. Aktes Mag der Himmel euch vergeben. Da er noch dazu von der Regie als fader Wahnbefallener gezeichnet ist, kann er sich auch darstellerisch nicht profilieren. Einzig der 30-jährige Slowake Peter Kellner, seit Herbst 2018 Mitglied der Wiener Staatsoper, erfüllt seine Rolle voll und ganz. Mit saftig-runder und stets zentrierter Stimme ist er als Plumkett in seinem Element und der erfreuliche Lichtblick dieses Abends – unverständlich, dass man ihm sein Porter-Lied zu Beginn des 3. Aktes gestrichen hat!

Leider kann auch über die musikalische Leitung des Abends wenig Positives berichtet werden. Robin Engelen setzte auf kräftige Akzente und nicht auf subtile Detailarbeit. Hoffentlich gibt es bei den folgenden Abenden eine Steigerung und die vielen nicht zu überhörenden rhythmischen Ungenauigkeiten zwischen Orchester und Bühne waren nur der Premierennervosität zuzuschreiben. Der bei den Damen durch den Extrachor verstärkte Opernchor (Einstudierung Bernhard Schneider und Georgi Mladenov) machte seine Sache stimmlich gut und hat sich mit bewundernswerter Selbstverleugnung in die Irren-Rollen eingelassen. Prächtig waren Bühnenbild (Ulrike Reinhard), Kostüme (Daria Kornysheva) und Lichtregie (Helmut Weidinger). Aber diese prächtigen üppig-barocken Bilder konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Oper Graz diesmal musikalisch unter ihrem gewohnten Niveau geblieben ist und dass das szenische Konzept nicht aufgegangen ist. Das Programmheft versucht klug und wortreich (inklusive James-Joyce-Zitaten) die Inszenierungsidee zu vermitteln: es gehe bei Lady und Lyonel um die Krankheitsbilder der Melancholia und Mania. Das zeigt auch das Bühnenbild am Ende des 3.Aktes, wo die Lyonel vor dem Eingang des Irrenhauses in eine Zwangsjacke gesteckt wird. Das Bühnenbild ist genau dem Portal des Bethlem Royal Hospital nachgebildet, wie man sich hier im Internet überzeugen kann. Aber trotz all dieser Erklärungsversuche: aus einzelnen Stellen des Librettos (Wahnsinn ist’s, der aus ihm spricht!) den unglücklich verliebten Lyonel zu einem manisch Geisteskranken zu machen, das ergibt keine bühnentaugliche und dem Werk gerecht werdende Interpretation.

Es war insgesamt eine optisch opulente Inszenierung mit großem Aufwand (Kulissen, Dreh- und Hebebühne, Statisten) – fast möchte man sagen: wie bei des Kaisers neuen Kleidern – nichts Essentielles und vor allem nichts Überzeugendes dahinter – die Oper Graz hat diesmal eine Chance vergeben! Das Publikum spendete lauten, aber auffallend kurzen Beifall.

Hermann Becke, 13. 1. 2019

Szenenfotos: Oper Graz, © Werner Kmetitsch

Hinweise:


Bis April 2019 noch 11 weitere Vorstellungen


Wie an der Oper Graz (leider) üblich, gibt es auch am Tage nach der Premiere noch keinen Video-Trailer – der kommt erfahrungsgemäß immer erst etwa eine Woche später. Aber in einem noch fünf Tage abrufbaren TV-Bericht des ORF kann man einen guten Eindruck von den Intentionen des Regisseurs gewinnen


Aus aktuellem Anlass sei an dieser Stelle einer bedeutenden Künstlerin der Oper Graz gedacht: im 98. Lebensjahr ist Erika Schubert verstorben, die trotz vieler internationaler Gastspiele einschließlich jahrelanger Mitwirkung in Bayreuth ein Leben lang ihrem Grazer Stammhaus die Treue gehalten hatte. Hier gibt es einen würdigen Nachruf der Oper Graz. Erika Schubert war übrigens seinerzeit auch eine großartige und stimmkräftige Nancy in Martha.