Graz: „Morgen und Abend“, Georg Friedrich Haas

«Der Anblick des Alters wäre wohl unerträglich, wenn wir nicht wüssten, dass unsere Seele in eine Region reicht, die weder der Veränderung der Zeit noch der Beschränkung durch den Ort verhaftet ist. In jener Seinsform ist unsere Geburt ein Tod und unser Tod eine Geburt. Im Gleichgewicht hängen die Waagschalen des Ganzen.»

An diese Worte des großen C. G. Jung (Briefe II, S. 205) musste ich beim neuerlichen Besuch der jüngsten Oper von Georg Friedrich Haas intensiv denken. Sie wurde 2015 in London und in Berlin uraufgeführt, produziert bisher auch in Heidelberg und nun als österreichische Erstaufführung in Graz auf den Spielplan gesetzt. Meinen Bericht über diese Erstaufführung vom 12. Februar finden Sie unten.

Mir war es nicht nur wichtig, das Werk nochmals zu erleben, sondern dabei auch zu beobachten, wie es sich im Repertoirebetrieb bewährt. Inzwischen gibt es ja auch einen eindruckvollen Trailer der Produktion: https://www.youtube.com/watch?v=DPI1GIYOGfY&t=298s. Nach wie vor hat die Oper Graz zum Unterschied zu den meisten Opernhäusern ja leider die Gewohnheit, ihre Trailer immer erst nach der Premiere zu veröffentlichen, sodass bei der Premierenkritik nicht darüber berichtet werden kann. Aber jetzt ist der Trailer verfügbar und allen Interessierten sehr zu empfehlen.

Meine erfreuliche Zusammenfassung über die Repertoireaufführung vorweg:

Das Haus war ausgezeichnet besucht und der Jubel des Publikums (darunter auch erfreulich viel Jugend) am Ende der gut 90-minütigen pausenlosen Aufführung war groß und uneingeschränkt. Das Werk ist also ganz offensichtlich „repertoiretauglich“ und wird vom Publikum angenommen – man kann sich über ein aktuelles muskdramatisches Werk unserer Zeit freuen! Und man kann mit berechtigtem Stolz die Kritik der Frankfurter Allgemeinen zitieren, die in ihrem Premierenbericht am 14.2. als Einleitung schrieb: „Wieder kauft die Oper Graz den Bühnen in Wien den Schneid ab: Georg Friedrich Haas’ Oper „Morgen und Abend“ nach Jon Fosse kommt hier zur beeindruckenden österreichischen Erstaufführung.“

Über Komponist und Werk habe ich viel im Premierenbericht geschrieben – wer das nachlesen möchte, der scrolle einfach hinunter. Diesmal seien die Interpreten in den Vordergrund gestellt. Es ist wahrlich eine besonders glückliche Fügung, dass ein so komplexes Werk wie Morgen und Abend von Georg Friedrich Haas nach dem Text von Jan Fosse auf eine einheitlich exquisite und kompetente Besetzung bei Inszenierung, Solistenteam, Chor und Orchester und Dirigent trifft. Da erlebte man zeitgemäßes Musiktheater auf sehr hohem Niveau – und das erreicht und überzeugt eben auch das Publikum! Dem Regisseur Immo Karaman mit seinem Team ist eine in den Bann ziehende szenisch und darstellerisch eigenständige Umsetzung gelungen, die das Werk überzeugend umsetzt. Dazu hatte Graz ein exzellentes Solistenquintett. Der am ehsten zu diskutierende Punkt – sowohl in Stück als auch in Umsetzung – war die Schauspielerpersönlichkeit. Es ist eine gewisse dramaturgische Schwäche, dass die Figur des Fischers Olai nur in den ersten 20 Minuten auftritt und als Sprechrolle auftritt. Schon bei der Uraufführung in London mit Klaus Maria Brandauer gab es da mehrfache Einschränkungen (siehe z.B. im Kurier). Natürlich ist Cornelius Obonya ebenso wie Brandauer eine bedeutende, gewichtige und ausdrucksstarke Bühnenpersönlichkeit. Hielt man Brandauer sein statisches Agieren vor, musste man bei Obonya ein zu wenig deutliches Artikulieren registrieren. Bei der Premiere sass ich auf dem Balkon – da verstand ich den Text noch passabel. In dieser Vorstellung saß ich im Parterre und da war der – nicht durch Übertitel gestützte – Text ganz einfach zu schlecht zu verstehen. Und diese Einschränkung vernahm ich von vielen aus dem Publikum – auch schon bei der Premiere.

Die Ausführung aller vier exponiert-schwierigen Gesangspartien war exzellent. Erst beim zweiten Hören fiel mir auf, welch wunderbare und klangschöne Gesangsduos die Partitur enthält. Vom Umfang und vom Gewicht der Rollen her steht die Rolle des Johannes im Mittelpunkt. Markus Butter sang diese Partie nicht nur mit Prägnanz und absoluter Textdeutlichkeit, sondern auch mit dunkel-baritonalem Wohlklang und man glaubte das nachvollziehen zu können, was Dirigent Kluttig bei einer Publikumpräsentation gesagt hatte: „Es ist unglaublich! Butter singt jeden Ton absoulut richtig! Butter gestand, dass er an der Partie zwei Jahre geabeitet hatte – er wusste das deshalb so genau, weil mit den Proben beim ersten Corona-Lockdown im März 2020 begonnen worden war. Wunderschön waren speziell seine Duette mit Erna, Peter und Signe, wobei alle an diesem Abend ebenso großartig, ja geradezu belcantesk sangen. Christina Baader gestaltete auch an diesem Abend mit ihrer warmen gut zentrierten Altstimme und ruhiger Ausstrahlung die Figur der verstorbenen Ehefrau Erna. Matthias Koziorowski sang mit wahrhaft strahlendem und textklarem Tenor den Freund Peter, der Charon-gleich Johannes in eine andere Welt geleitete.

Cathrin Lange sang wie bei der Premiere die Sopran-Doppelrolle der Hebamme bzw. der Johannes-Tochter Signe. Zweimal hatte sie wegen Corona absagen müssen – davon einmal mutig ersetzt durch eine junge Sopranistin des Hauses, die bei allen Proben anwesend gewesen war und ganz kurzfristig einsprang und die Vorstellung rettete Diesmal überzeugte Cathrin Lange wieder mit ihrer klar-fokussierten Stimme. Die schon bei der Premiere bewunderte Schlussstelle gelang auch diesmal ausgezeichnet. Sie bewältigte auch sehr überzeugend die gesprochene Phrase am Grab ihres Vaters – wohl eine Reminiszenz an den gesprochenen Beginn des Stücks.

Die musikalische Seele des Abends war wiederum der Dirigent Roland Kluttig, der ganz kurzfristig bei den Salzburger Festspielen 2021 mit Morton Feldmans Oper "Neither" am Pult des RSO Wien eingesprungen war und über den die FAZ schrieb: "Roland Kluttig, einer der wenigen Dirigenten weltweit, der neueste Musik genauso versiert aufführen kann wie Beethoven, Wagner und Sibelius…" Roland Kluttig hatte ja ursprünglich mit der moderen Musik begonnen, war er doch zu Beginn seiner Karriere von 1992 bis 1999 Dirigent des Kammerensembles Neue Musik Berlin. Mit klarer Zeichengebung hielt er bei Haas das große und sehr gut disponierte Orchester der Grazer Philharmoniker und das Ensemble zusammen und in ausgewogener Balance. Auch der Chor der Oper Graz (Einstudierung: Bernhard Schneider), der mehrfach aus dem Off klangschöne Vokalisen beitrug, war ein wichtiger Teil des Gesamtensembles.

Zu Beginn meines Beitrags zitierte ich C. G. Jung:

„Unsere Geburt ist ein Tod und unser Tod eine Geburt. Im Gleichgewicht hängen die Waagschalen des Ganzen.“

Dieses Gleichgewicht haben nicht nur Fosse und Haas perfekt dargestellt. Man kann dieses Wort auch im ganz praktischen Sinne auslegen:

In dieser Produktion ist ein ideales Gleichgewicht zwischen Werk und szenischer wie musikalischer Wiedergabe gelungen – ein bedeutender Abend!

Zum Schluß daher nochmals die ausdrückliche Ermunterung und Einladung, die ich schon nach der Premiere ausgesprochen hatte und die ich nach dem Besuch einer zweiten Aufführung mit Überzeugung wiederhole:

Wer an der Weiterentwicklung eines zeitgemäßen Musiktheaters in Werk und Wiedergabe interessiert ist, der sollte unbedingt zumindest eine der nächsten Aufführungen besuchen – bilden Sie sich unbedingt selbst eine Meinung! Und bedenken Sie das, was die Solisten, die sich wahrlich intensiv mit dem Werk auseinandergesetzt hatten, vor der Premiere sagten:

„Keine Angst vor neuer Musik“ und „Das bewegt jeden“

26. 3.2022, Hermann Becke

Szenenfotos: Oper Graz, © Werner Kmetitsch

Hinweis: Es sind noch drei Auführungen angekündigt – am 6., 22. und 24. April. Kommen Sie – wer weiß, wann und wo es die Chance geben wird, dieses Werk über Geburt und Tod neuerlich in einer derartig gültigen Produktion zu erleben!