Das Solistenteam von "Morgen und Abend" stellt sich vor und schickt mit einem Kurzvideo einen Gruß aus der Probe an das Publikum – unter anderem mit den Worten „Keine Angst vor neuer Musik“ und „Das bewegt jeden“
Es gibt eine lebenslange Verbindung des heute 68-jährigen Georg Friedrich Haas mit Graz. Hier wurde er geboren und hierher kam er nach Kindheit und Schulzeit in Vorarlberg zurück, um hier Klavier, Komposition und Musikpädagogik zu studieren. Er unterrichtete an der Kunstuniversität in Graz (zuletzt als Universitätsprofessor) und an der Musikakademie in Basel. 2013 wurde er als Professor of Music an die Columbia University in New York berufen und lehrt seitdem dort Komposition. Alle Details seines künstlerischen und pädagogischen Lebenswegs finden sich in der erst jüngst aktualisierten Musikdatenbank von mica – music austria
Georg Friedrich Haas „ist heute einer der wenigen hiesigen zeitgenössischen Musiker, die es tatsächlich zu internationalem Ansehen gebracht haben und nicht nur im Inland weltberühmt sind“, wie die Wiener Tageszeitung Der Standard pointiert zur Einbegleitung der österreichischen Erstaufführung seiner etwa 90-minütigen Oper Morgen und Abend an der Oper Graz schrieb. Und wahrlich: Georg Friedrich Haas ist erst in den letzten rund 20 Jahren endgültig ins Licht einer breiteren Musiköffentlichkeit getreten, wie nicht nur ein Blick in seine Werkverzeichnisse bei der Universaledition und bei Ricordi-Berlin belegt, sondern auch die 2017 publizierte Umfrage Expert survey: Haas is the most important living composer!
Seine kompositorischen Anfänge präsentierte Haas in den 1980er-Jahre zunächst im halbprivaten Rahmen seiner großen Wohnung (samt deren prächtigen Stiegenhaus) in einem bürgerlichen Gründerzeithaus nahe dem Grazer Opernhaus. Ich erinnere mich noch gut an die Zuhörerschaft des Hauses – ehrfurchtsvoll und ratlos gegenüber der Musik, die da von zwei vierteltönig gestimmten Klavieren erklang. Niemand hätte damals gedacht, dass sich rund 40 Jahre später der bescheidene junge Mann als inzwischen international hochgeachteter Komponist auf der Grazer Opernbühne für einen einhelligen und großen Publikumserfolg bedanken wird können und dass wie selbstverständlich zwischen den Perlenfischern, Schwanda der Dudelsackpfeifer, Der Fliegende Holländer und Anatevka nun auch eine Haas-Oper auf dem „normalen“ Monatsspielsplan der Oper stehen wird. Sein Weg ist ihm nicht immer leicht gefallen bzw. gemacht worden, wie er in einem öffentlichen Gespräch mit dem Grazer Opernchef Roland Kluttig bekannte.
Mit diesem Premierenerfolg ist Georg Friedrich Haas, Österreichs derzeit vielleicht arriviertester Avantgarde-Komponist (Die Presse in der Premierenkritik vom 13.32.2022), jedenfalls endgültig in Graz „angekommen“! Das bestätigte nicht nur der Publikumsjubel, sondern wohl auch die einhellige Akzeptanz des gesamten Ensembles, das den Komponisten nach dem Fallen des Vorhangs hörbar feierte. Auch das bisher vorliegende österreichweite Presseecho war einhellig positiv.
Damit unser Leserkreis, der das Werk nicht kennt und nicht in der Aufführung war, einen Überblick erhält, sei zunächst aus der Werkeinführung des Verlags zitiert:
Das siebente Musiktheaterwerk des 1953 in Graz geborenen Georg Friedrich Haas basiert auf dem Roman „Morgen und Abend“ von Jan Fosse, einer lethargischen, aber gleichzeitig auch hoffnungsträchtigen, konfessionell ungebundenen, zu Beginn stark monologisierenden Szenenfolge über Leben und Tod. Der erste Abschnitt dieses pausenlosen, anderthalbstündigen Musiktheaters konfrontiert das Publikum mit dem „Morgen“ eines Lebens: melodramatisch breit geschildert und von Fischer Olai, dem Vater, assoziativ reflektiert, versinnlichen die Klänge von Haas die Geburtsstunde des Johannes. Der Rest des Bühnenwerkes erzählt dann vom „Abend“ jenes Lebens des Johannes – und tut dies überraschender Weise aus dessen Sicht. Er begegnet Erna, seiner Frau. Erst langsam wird dem Zuschauer klar, dass Erna nicht mehr lebt. Deutlicher wird die Diskrepanz zwischen Realität und Wahrnehmung, wenn die Tochter zu Johannes im Bett spricht, obgleich dieser es bereits verlassen hat. Johannes’ Freund Peter, ebenfalls längst tot, kommt, um mit Johannes zum Fischen auf die See hinauszufahren. Jon Fosse erzählt die Geschichte des Fischers Johannes, eines einfachen, alten Mannes. Er erinnert sich an sein vergangenes Leben, an diejenigen Menschen, die ihm am meisten bedeutet haben, seine Frau und seinen Freund Peter, beide längst verstorben. Johannes’ Sehnsucht wird sich an diesem Tag erfüllen. Als seine Tochter am nächsten Morgen nach ihm sieht, ist er tot.
Im Jahre 2008 fand in Graz die erste Aufführung einer Oper von Georg Friedrich Haas statt – wenn man seinen musikdramatischen Beitrag zu den Wölfli-Szenen (1980-1981) außer Acht lässt. Das lohnte übrigens einmal einen eigenen aufführungspraktischen Beitrag – der junge Komponist hatte damals einiges an Schwierigkeiten zu überwinden. Im Jahre 2008 war Melancholia die Pariser Uraufführungsproduktion, die im Rahmen des Festivals Steirischer Herbst zweimal im Grazer Opernhaus gezeigt wurde. Heute das Interview zu lesen, das Georg Friedrich Haas dazu im Jahr davor also heute vor 15 Jahren – gegeben hatte, ist höchst informativ:
„GFH: Die Oper wird sicher im Rahmen des steirischen herbst in Graz aufgeführt werden, wofür ich der Intendantin Veronica Kaup-Hasler auch sehr dankbar bin. Aber ich sage jetzt das, was ich ihr auch sagte: Es ist eine Schande, dass sie im Rahmen des steirischen herbst aufgeführt werden muss. Die Oper wird im Palais Garnier in Paris gespielt, sie wird in Bergen und in Oslo im normalen Opernhaus gespielt. Der steirische herbst sollte eigentlich die Opern der 30-jährigen aufführen und nicht Opern von 56-jährigen. Ich finde es wirklich traurig, dass die großen Opernhäuser so wenig Raum für aktuelles neues Musiktheater bieten. Das Publikum wäre da, vorausgesetzt, man nimmt die Aufgabe wirklich ernst.”
Nun: 14 Jahre später haben in Graz Intendantin Nora Schmid und Opernchef Roland Kluttig haben die Aufgabe der Pflege des aktuellen Musiktheates ernst genommen und diesen Aufruf von Georg Friedrich Haas exzellent umgesetzt: Seine 2015 in London uraufgeführte Oper Morgen und Abend ist Bestandteil des Grazer Opernspielplans 2021/22 und wird nach der Premiere im Repertoirebetrieb noch achtmal zu erleben sein – hier die Termine bis April. Dazu schon an dieser Stelle die Ermunterung an alle an modernem Musiktheater Interessierte: Unbedingt hingehen!
Die Oper Graz bot nach meiner Einschätzung ideale Voraussetzungen für eine erfolgreiche Produktion. Das begann schon damit, dass zur diesjährigen Saisoneröffnung Chefdirigent Roland Kluttig im Programm des repräsentativen Eröffnungskonzerts der Grazer Philharmoniker im Grazer Opernhaus das concerto grosso Nr.1 für 4 Alphörner und Orchester (2014) von Georg Friedrich Haas der Alpensinfonie von Richard Strauss gegenübergestellt hatte. (Wen es interessiert, der kann hier bis zum 25.9.2021 hinunterscrollen und meinen Bericht nachlesen). Damals konnte sich das Grazer Opernpublikum bereits in die Haas’sche Klangwelt einhören. Zusätzlich gab es in der Woche vor der Premiere für das Publikum die Möglichkeit eines Probenbesuchs und zusätzlich einen Gesprächsabend zwischen Komponist und Dirigent mit Beispielen Haas’scher Kammermusik, in denen Georg Friedrich Haas analysierend höchst interessante Einblicke in seine Kompositionsweise und sein Verhältnis zu klassischer Musik gab. Beide Angebote wurden vom Publikum erfreulich gut angenommen. Wer wollte, kam also gut vorbereitet in die Premiere. Für den Besuch der weiteren Aufführungen empfehle ich sehr, sich vorher das von der Dramaturgin Marlene Hahn ausgezeichnet zusammengestellte Programmheft zu besorgen. Es bietet eine ideale Einstimmung.
Dazu gab es ein optimal zusammengestelltes Solistenteam. Cornelius Obonya, der zu den gefragtesten Schauspielern im deutschen Sprachraum zählt und in Graz zuletzt als Peer Gynt zu Gast war, verkörperte völlig unmaniriert einen bodenständigen Fischer und glaubhaften Urvater Olai. Sein Sprechtext wurde nicht durch Übertitel unterstützt und blieb über dem Orcheter dennoch gut verständlich – wohl weil der Dirigent (und wohl auch schon der Komponist!) entsprechend Rücksicht nahmen. Im 2. Teil wurde Marcus Butter sein Sohn Johannes zur beherrschenden Bühnenfigur – eine bewundernswerte und beim Schlussapplaus gesondert gewürdigte stimmliche und darstellerische Leistung!
Mit heller Stimme und klarer Artikulation war Matthias Kosziorowski der Freund von Johannes, der ihn Charon-gleich in die andere Welt geleitete. Christina Baader gestaltete mit warmtimbrierter Altstimme und ruhiger Ausstrahlung die Figur der verstorbenen Ehefrau Erna. Vom Komponisten ausdrücklich gewünscht ist, dass die Sopranrolle der Hebamme und der Johannes-Tochter Signe mit derselben Sängerin besetzt wird. Dafür hatte man Cathrin Lange gewonnen, die 2016 in Graz sehr erfolgreich als Blonde in Mozarts Entführung aus dem Serail gastiert hatte. Sie bringt Olai das neugeborene Kind singt die ersten Töne „Du hast einen Sohn“ – und mit ihr als Johannes-Tochter Signe endet das Stück abrupt im höchsten Pianissimio (virtuos decrescierend vom hohen c auf das des) : „Johannes, lieber Vater“ . Cathrin Lange bewältigt die stimmlichen Anforderungen großartig und ohne Schärfe. Der Komponist wünschte sich, dass diese Doppelbesetzung die Existenz einer fürsorglichen Frau verkörpert, ohne deren Hilfe Johannes nicht hätte leben können: Im Anfang die Hebamme, am Ende seine Tochter Signe. Cathrin Lange hat dies darstellerisch und musikalisch überzeugend vermittelt.
Mit diesem ausgezeichneten Solistenquintett ist dem Regisseur Immo Karaman zusammen mit Rifail Ajdarpasic (Bühne) und Fabian Posca (Kostüme) eine höchst eindrucksvolle szenische Umsetzung gelungen, die sich nicht vor das Werk drängt, dabei doch eigene Akzente setzt und den musikalischen Sog unterstützt, der das Publikum – und wohl auch alle Ausführenden! – neunzig Minuten lang nicht aus dem Bann des musikdramatischen Ereignisses entlässt. Karaman und sein Team, zu dem Grazer Hauskräfte ihren positiven Teil dazu beitrugen (Daniel Weiß – Licht, Philipp Fleischer – Video und Marlene Hahn – Dramaturgie) haben ungeheuer feinfühlig diese Zwischenwelten optisch erlebbar gemacht. Man könnte viele praktische Details erwähnen – etwa, dass Olai erst jene Türe frei in den Raum stellt, die für ihn dann eine bedeutende Rolle spielt oder der wunderbar-bildhafte Gedanke, die Handlung in ein Schiff zu verlegen und dort immer wieder zitathaft Zimmerteile erscheinen lässt, wobei offen bleibt, ob das Schiff gestrandet ist oder vielleicht doch nochmals in See stechen wird. Es ist das gelungen, was gutem Theater immer gelingen sollte: Bilder im Betrachter entstehen zu lassen, die das Werk wiedergeben und gleichzeitig weiterentwickeln. Ich kann nun sehr gut den Satz verstehen, den Georg Friedrich einmal gesagt hat: "Früher war ich überzeugter Christ. Dann habe ich den Glauben verloren. In der schmerzlichen Lücke, die dieser verlorene Glaube hinterlassen hat, befindet sich jetzt die Musik." Und ich möchte ergänzen: in dieser schmerzlichen Lücke befand sich diesmal die gesamte szenisch-musikalische Wiedegabe.
Zum Schluss sei noch besonders Roland Kluttig bedankt. Er war sicher die treibende Kraft hinter dieser Produktion. Man weiß, dass sich die Solisten fast zwei Jahre lang das diffizile Werk erarbeitet haben. Die Grazer Philharmoniker haben große Kompetenz auf dem Gebiet der zeitgenössischen Musik bewiesen. Roland Kluttig hat alles bewundernswert zusammengeführt und zusammengehalten. Und so wurde der Abend nicht nur ein großer Abend für das Werk von Haas und Fosse, sondern unbestritten auch für das gesamte Grazer Opernensemble einschließlich des Grazer Operchor s (Leitung: Bernhard Schneider), der unsichtbar die vorgegebenen Vokalisen klangschön einbrachte.
Daher zum Schluß nochmals die ausdrückliche Ermunterung und Einladung:
Wer an der Weiterentwicklung eines zeitgemäßen Musiktheaters in Werk und Wiedergabe interessiert ist, der sollte unbedingt zumindest eine der nächsten Aufführungen besuchen – bilden Sie sich unbedingt selbst eine Meinung! Und bedenken Sie das, was die Solisten, die sich wahrlich intensiv mit dem Werk auseinandergesetzt haben, zu Beginn dieses Beitrags sagten:
„Keine Angst vor neuer Musik“ und „Das bewegt jeden“
14.2.2022, Hermann Becke
Szenenfotos: Oper Graz, © Werner Kmetitsch
Und für alle, die an Weiterführendem interessiert sind:
– Die gesamte Partitur des Werkes kann auf der Website des Verlags Universal-Edition eingesehen werden. Wenn Sie sich die beiden folgenden Beispiele ansehen, dann können Sie die außerordentlichen Schwierigkeiten bei der musikalischen Einstudierung ermessen:
– UE-Interview mit Georg Friedrich Haas über Morgen und Abend