Sanft hebt das Orchester zu den ersten Tönen des Pilgergesangs an, der sich zu einer feierlichen musikalischen Vorauserinnerung der am zeitlosen Ende stehenden Erlösung steigert. Doch so rasch, wie Tannhäuser selbst einst den frommen Sang gegen die stürmische Preisung der Göttin der Liebe tauschte – und es nur wenig später wieder tun wird –, schwinden die solennen Klänge und geben den verführerischen Melodien des Venusbergs Raum. Vor dem inneren Auge erscheinen wunderbare Bilder einer idyllischen Grotte, beinahe meint man, die rosigen Düfte vernehmen zu können. Doch als sich der Vorhang hebt, wird bei Evgeny Titovs „Tannhäuser“ im Bühnenbild von Christian Schmidt kein paradiesisches Sanktuarium der Lust sichtbar, von allem, was der reine Genuss ersehnen ließe, ist weit gefehlt. Statt den wundersamen Reizen des Liebesreiches eröffnet sich inmitten einer verlassenen Halle ein düsterer, schmutziger Abgrund. In diesem hat Tannhäuser sein trostloses Lager errichtet und sinnt auf einem zerstörten Flügel verzweifelt seiner Existenz als gefeierter Sänger nach. Alles, was er sich einst erhoffte, hat sich als Trug erwiesen, nicht freie Lust und ekstatischen Genuss brachte ihm der Bruch mit der Gesellschaft auf der Wartburg, sondern Verzweiflung und Verderben.
Die Flucht aus der gewohnten Welt, für Tannhäuser mit ihrer klaren moralischen Ordnung ein einengendes Konstrukt, in dem er nicht glücklich werden konnte, da es ihn nach Mehr, nach Freiheit drängte, führte ihn in ein völlig konträres Extrem, das ihn jedoch abhängig statt frei machte. Diese Abhängigkeit wird in einer Drogensucht konkret, ist aber in einem weit umfassenderen Sinn substantiell: Wonach es Tannhäuser eigentlich verlangt, wohin es ihn drängt und immer wieder drängen wird, ist die Flucht in ein Vorne, das es in dieser Form nicht gibt, sondern sich bei Annäherung stets verflüchtigt und deshalb nie in erfüllender Weise zu erreichen sein wird. Ihn reizt die Grenzüberschreitung, ein immer neues Ausbrechen aus Gewohntem, die impulsive Erfüllung von Bedürfnissen ohne Bewusstsein für die eigene Verantwortung, den anderen, noch weniger sich selbst gegenüber. Der Rückzug in den Venusberg, ein Akt der Isolation, der ihm eine genussvolle Konfrontation mit den basalen Empfindungen des Lebens und der Lust bringen sollte, konnte ihn nicht wahrhaft frei machen, denn dem eigenen zerrissenen Selbst lässt sich nicht entfliehen. Anstatt dem tatsächlichen Problem zu entkommen, rannte Tannhäuser diesem, nicht jenen der Venus, in die Arme, bis er es als solch selbstzerstörerisches erkennen musste und ihm – sich selbst – nicht länger entweichen konnte. Seine flehentliche Bitte „Lass mich zieh’n!“ richtet sich mit der Königin und Göttin letztlich an die falsche, in dieser Hinsicht machtlose Adressatin.
Doch trotz des Bruches wird Tannhäuser freundschaftlich in den Sängerkreis wiederaufgenommen und dadurch aus seiner fortschreitenden Selbstzerstörung gerettet. Nicht aber die Ritter waren es, die ihn zu seiner Wiederkehr brachten, sondern die Nennung des Namens der Frau, deren Liebe er einst mit seinen Liedern für sich gewann: Elisabeth, welche die andere Seite seines unsteten Herzens zum Klingen bringt. Freudig ist die erneute Begegnung zwischen ihr und Tannhäuser, der nun nicht mehr die Göttin, sondern den Gott der Liebe preist. Diesen Lobpreis aus seinem Mund erwartet Elisabeth nun auch beim Sängerwettstreit zu vernehmen, bei dem nichts weniger als das Wesen der Liebe ergründet werden soll. Zum Leide Wolframs, der Elisabeth ebenfalls zutiefst liebt, darin aber die Anbetung aus der Ferne versteht, deren Wonnen nur im Geiste, nicht mit dem Körper zu fühlen sind, scheint allen gewiss zu sein, dass Tannhäuser den Wettstreit und damit Elisabeth selbst gewinnen wird. Doch es zeigt sich, wie sehr ihn der Abgrund noch umfängt, wie wenig er aus diesem und sich selbst entfliehen kann.
Evgeny Titov greift diesen Aspekt gelungen auf, indem er den Abgrund während des gesamten Werks auf der Bühne beibehält und so, in Umkehrung der üblichen Ordnung, auch den Sängerwettstreit darin spielen lässt. Doch auch die für kurze Zeit wiedergefunden geglaubte Ordnung von Liebe und Tugend währt nicht lange. Als Tannhäuser Wolframs Lied vernimmt, regt sich in ihm Protest, seine Begierden kommen zum Durchbruch, verdeutlicht durch das Erscheinen einer Venusgestalt, die diesmal jedoch nicht Venus selbst ist, sondern ein Mann in Drag, der zugleich die mit Lust ersehnte Überschreitung jeglicher Grenzen auch hinsichtlich der Geschlechter symbolisiert. Tannhäusers als Freiheit missdeutete Abhängigkeit setzt sich erneut durch und führt ihn zu den widerwärtigsten Taten. Biterolf wird mit derben An- und Ausdeutungen seines Liedes konfrontiert, mehrere Bedienstete werden von Tannhäuser aufs Wildeste sexuell belästigt, zuletzt reißt er der Harfenistin des Sängerstreits das Kleid vom Leib. Zurecht entbrennt der Sänger in heftigstem Zorn, nur das Wort Elisabeths, die noch im bittersten Schmerze an ihrem Glauben festhält und sich Tannhäusers Rettung annimmt, vielleicht aus eigener Liebe gar nicht anders kann, als sich ihrer anzunehmen, vermag es, dem Sünder in seiner weltlichen Verbannung einen Weg des jenseitigen Heils zu eröffnen.
Im dritten Akt steigt Elisabeth selbst in den Abgrund. Dort, wo Tannhäuser einst sein trostloses Lager errichtet hatte, betet sie nun unablässig für ihn und sein ewiges Heil. Dabei zeigt Titov auf berührende Weise, wie sehr auch sie, ohne ihre geistige Stärke zu verlieren, an dem Leid der ihr zugefügten Verletzung, aber auch dem Mitleid, das sie für Tannhäuser, der nicht unter den entsühnten Pilgern wiederkehrt, empfindet, zugrunde zu gehen droht. So enthält ihre äußerste Selbsthingabe neben schon nicht mehr von dieser Welt seiender Barmherzigkeit einen zutiefst menschlichen Schmerz, der selbst für eine Heilige zu schwer ist, um auf Erden getragen werden zu können. Entkräftet zieht sie in die Ferne. Zurück im Graben bleibt Wolfram, erfüllt von tiefer Trauer, da das Ideal seiner Liebe zu Elisabeth als Anbetung aus nicht einholbarer Ferne nun zu äußerster Verwirklichung kommt.
Doch auch seine Größe und Empfindsamkeit zeigen sich, als Tannhäuser, erneut umfangen von seinem nicht in Freiheit, sondern in ewiger Rastlosigkeit und Zerstörung endenden Sehnen, wiederkehrt. Trotz aller Unterschiedlichkeit nimmt er ihn aus unausgesprochenem Verständnis im Lieben als Freund an und bewahrt ihn vor der Rückkehr in die Isolation des Venusbergs. Doch auch für Tannhäuser ist der Schmerz zu groß, sein unaufhörliches Drängen führte ihn zu weit, um noch auf dieser Erde selig werden zu können. So überschreitet er die letzte Grenze des Todes, um endlich der Erlösung zu nahen, die der himmlische Chor vom obersten Balkon des Saals verkündet, während auf der Bühne der triste Abgrund in beklemmender Leere Wolfram und Tannhäuser birgt. Die Gleichzeitigkeit von erlöst und verloren ist selten so deutlich zu spüren wie an diesem Abend.
In einem im Programmheft abgedruckten Gespräch bringt Evgeny Titov ein Verständnis von Talent „als Empfindlichkeit, Sensibilität, Dünnhäutigkeit, die Art, wie man mit der Welt in Berührung kommt“, zur Rede, das man nach Erleben dieser Inszenierung auch ihm zuzusprechen hat. Es ist beeindruckend, mit welch sensiblem Blick er sich dieses psychologisch und emotional komplexen Stoffes annimmt, die darin verdichteten, gerade in aller Widersprüchlichkeit zutiefst menschlichen Sehnsüchte, Werte und Tugenden herauskristallisiert und auf berührende Weise zum Ausdruck bringt. Die rein äußerliche Ebene überschreitend dringt er zum Wesentlichen vor und macht die nur scheinbar in einer völlig anders als der unsere geartete Welt angesiedelte Geschichte nahbar. Damit zeigt er, dass es keinen aktualisierenden Transfer braucht, der ein Werk oft mehr um- als ausdeutet, sondern eine Empfindsamkeit, eine Aufmerksamkeit für menschliches Denken, Sehnen, Fühlen – die Fähigkeit, die vielschichtigen Weisen, auf der Welt zu sein und über diese hinauszuschreiten, wahrzunehmen und in ihrer Essenz zu zeigen. Dabei beweist er besonders hinsichtlich der religiösen Dimension höchste Sensibilität und vermag es, daß ihrem Wesen nach nicht rational Einholbare einer Glaubenserzählung zu bewahren und diese als solche spürbar zu machen.
Wohl aus fälschlicher Angst vor sich nicht einstellendem Verständnis vonseiten des heutigen Publikums scheint es selten geworden zu sein, dass Elemente des Religiösen in ihrer die empirische Welt transzendierenden Kraft bewahrt und nicht auf innerweltlich erklärbare Vorgänge reduziert werden. Dies führt jedoch meist nicht zu größerem Verständnis, sondern eher zu Widersprüchlichkeiten zwischen dem Werk in all seinen Dimensionen und der davon entfernten, gar parallellaufenden Interpretation. Besonders bei einer Oper wie „Tannhäuser“, deren intrinsische Kraft wesentlich von einer religiösen Tiefenstruktur herrührt, kann eine solche zu einer das Werk unterminierenden Reduktion führen. Doch bei Titov darf Elisabeth sich betend aufopfern, ihr Leben in die Hände Mariens legen und aus dem sichtbaren Geschehen fortschreiten, um zum Engel an Gottes Thron zu werden – in aller Offenheit der persönlichen Interpretation und Freiheit des eigenen Glaubens. Auf diese Weise kann eine berührende Inszenierung von etwas gelingen, das sich weder auf der Bühne der Oper noch jener der Welt gänzlich darstellen und begreifen lässt, eine Inszenierung, die eine Glaubenserzählung nicht ihrer Transzendenz berauben und dechiffrieren will, sondern sie als solche mit emotionaler Kraft als Möglichkeit des glaubenden Verstehens eröffnet.
Eine so feinfühlige, im Äußeren ästhetisch, aber schlicht gehaltene, dafür das Innere herausarbeitende und spürbar machende Inszenierung verlangt von den Mitwirkenden eine überzeugende darstellerische Kraft. Dies ist an der Oper Graz mit einer in allen Rollen starken Besetzung gelungen. Samuel Sakker verkörpert den innerlich zerrissenen Tannhäuser auf eindrückliche Weise, sein verzweifelter und impulsiver Drang nach Freiheit bei gleichzeitiger Empfindung bleibender Unfreiheit wird so intensiv spürbar, dass Entsetzen, beinahe Ekel, und doch auch Mitgefühl aufkommen. Gleichsam verleiht er Tannhäuser eine hohe Emotionalität, seine Freude und begeisterte Liebe berühren zutiefst. Auch gesanglich vermag es Sakker, diese zwei Seelen in Tannhäusers Brust auszudrücken, wenngleich man in den intim-gefühlvollen Szenen gelegentlich größere Flexibilität und Zartheit im Ausdruck wünschte.
Umso eindrücklicher gelingen dafür die von Getriebenheit geprägten Momente. In ihrer zarten Emotionalität, die stimmlich wie szenisch ein Panorama von beinahe kindlicher Vorfreude bis zu tiefstem Ernst eröffnet, begeistert Erica Eloff mit ihrem Debut als Elisabeth. Ihre klare, direkte Stimme dringt besonders im Piano unmittelbar ins Herz und lässt so die intensiven, aber anders als bei Tannhäuser stets kontrollierten Gefühle Elisabeths, nicht zuletzt den wahrlich nur für eine Heilige zu vereinbarender Widerspruch zwischen tiefster Verletzung und unendlicher Liebe spürbar werden. Bis zur äußersten Hingabe in den erlösenden Tod verleiht Eloff ihrer Elisabeth eine Würde, die niemals in Stolz umzukippen droht. Im Charakter gänzlich verschieden, doch ebenso eindrücklich in ihren Emotionen ist Mareike Jankowski als Venus. Zwischen Verführung, Wehmut und Zorn variierend verkörpert sie die Liebesgöttin und vermeidet dabei alles Schrille, stattdessen setzt sie mit strahlendem, warmem Klang auf die eindringliche Kraft ihrer Stimme.
Ein weiteres Debut des Abends gab Nikita Ivasechko als Wolfram von Eschenbach, und es ist zu hoffen, ihn noch oft in dieser Rolle erleben zu dürfen. Mit sattem, resonierendem Bariton, stets feinfühlig nuanciert in der Klangfarbe, macht er Wolframs überzeugtes, wenngleich idealistisches Wesen, aber auch seine Verletzlichkeit hörbar. Als strenger, aber im Herzen gütiger Landgraf Hermann, der seine Milde im Urteil über Tannhäuser wohl nicht zuletzt wegen des per Handdruck sehr deutlich empfundenen Bewusstseins seiner eigenen Unvollkommenheit walten ließ, war Wilfried Zelinka zu hören. Im Ausdruck würdevoll, stimmlich satt und mit nötiger Vehemenz bei gleichzeitig hörbarer Wärme verzichtet er auf jegliche Aggressivität, die in dieser Rolle allzu oft zu vernehmen ist. Ebenso überzeugten Ted Black, Ivan Oreščanin, Euiyoung Peter Oh und Will Frost als Ensemble der Sänger, die je für sich, aber auch im Zusammenspiel stimmlich wie darstellerisch differenziert die Werte ihrer ritterlichen Existenz zum Ausdruck brachten.
Hervorgehoben sei nicht zuletzt die glanzvolle Leistung des Chors der Oper Graz, verstärkt durch Extra- und Zusatzchor, der unter Leitung von Johannes Köhler sowohl die freudige, dann entsetzte Gesellschaft der Wartburg als auch die berührenden Gesänge der Pilger mit sicheren, ausgewogenen Stimmen erklingen ließ. Besonders beeindruckend gelang dabei die Variation in Dynamik und Farbe, die den vorüberziehenden Zug der Pilger eingehend widerspiegelte.
Musikalisch getragen wurde der Abend von den Grazer Philharmonikern unter ihrem Chefdirigenten Vassilis Christopoulos. Es gelang eine orchestrale Spitzenleistung, die die hervorragende Akustik des Grazer Opernhauses zu nutzen wusste und die kontrastreiche Musik in eben diesen Facetten zum Klingen brachte. Ohne in Dynamik oder Dramatik zu übertreiben, führte Christopoulos sein Orchester durch feierliche Klänge mit überwältigender Kraft, majestätische Fanfaren und zarte, verführerische Melodien bis hin zu einem heiligen, doch hoch emotionalen Ernst und ließ so einen „Tannhäuser“ entstehen, der die Spannung zwischen den Extremen auch musikalisch zum Ausdruck brachte. Mit Verzicht auf übermäßiges Pathos, dafür umso subtiler die feinen Nuancen herausarbeitend, die in sich schon größte Dramatik bergen, konnte die Musik in unmittelbarer Weise ihre Wirkung entfalten. Die sensible Abstimmung zwischen Orchester, Chor, Solistinnen und Solisten, auch dem Fernorchester oder den von hinter oder über der Bühne gesungenen Chorpassagen, zeugt von einer intensiven Zusammenarbeit, in der niemand den anderen begleitet oder anführt, sondern gemeinsam an einem Klang gewirkt wird.
Dieses Zusammentreffen von äußerst sensibler, auf das Innere der Figuren fokussierter, sich selbst aber gleichzeitig zurücknehmender Regie, dem die Komplexität der Wagnerschen Partitur differenziert und mit viel Gefühl zum Klingen bringenden Orchester und dem gesanglich wie darstellerisch überzeugenden Sängerensemble führt zu einem Abend, der auf emotional berührende Weise die zentralen Themen des Werks herausstellt, es aber dennoch vermag, Freiräume zu eröffnen für das, was sich nicht gänzlich ausdrücken oder erklären lässt. Unter Berücksichtigung aller Dimensionen der Oper – des Werks, aber auch des Gebäudes, so tönen die zum Fest rufenden Trompetenfanfaren von den Orchesterlogen oder mutet der überwältigende Schlusschor durch Positionierung auf dem obersten Balkon wie der himmlische Chor der Engel an –, entsteht ein Gesamtkunstwerk, das den dieses erlebenden Menschen in seiner Gesamtheit anspricht und mit sich selbst, den Freuden wie den Abgründen, konfrontiert.
Dieser „Tannhäuser“ ist eine Aufführung, die mitreißt, berührt und tief in die Seele dringt, in der manches zum Schwingen gebracht wird, das im Werk in Extremen zum Vorschein kommt, doch auch dem eigenen Denken, Wollen und Fühlen nicht gänzlich fremd sein mag.
Elena Deinhammer, 18. Oktober 2024
Besonderer Dank an unsere Freunde vom OPERNMAGAZIN
Tannhäuser
Richard Wagner
Oper Graz
10. Oktober 2024
Regie: Evgeny Titov
Dirigat: Vassilis Christopoulos
Grazer Philharmonikern