Leipzig: „Lamento“

„Die Zukunft gehört denen, die an die Wahrhaftigkeit ihrer Träume glauben“
— Eleanor Roosevelt

Liebe, Trauer, Abschied und die Sehnsucht nach Freiheit – um diese Themen kreist der zweiteilige Abend von Mario Schröder, Ballettdirektor und Chefchoreograf der Oper Leipzig.

Im ersten Teil, >Blühende Landschaft<, (UA 2013) entwirft der Choreograf Schröder einen imaginären Sehnsuchtsort der Tänzerinnen und Tänzer des Leipziger Balletts. Viele der Kompaniemitglieder kommen aus Ländern, die von Unfreiheit und Konflikten bestimmt werden. Das Motiv der Flucht, des Abschieds aus der Heimat, der Ankunft in der neuen Heimat, der Orientierung und Integrierung ist heute, und nicht nur heute, eine hochpolitische Frage.

Die Choreografie Mario Schröders beruht auf den Gegensätzen zwischen der eher ruhigen tänzerischen Darstellung des klassischen Balletts und des dynamischen bewegungsorientierten modernen Tanztheaters. Wobei für Schröder Tanztheater Ballett und Ballett Tanztheater, Tanz ganz allgemein als Bewegung, bedeutet. (Interview Februar 2020).

Die fünf Teile tragen die Überschrift:

ANKUNFT

Johann Sebastian Bach: Cantata BWV 21, Sinfonia: Ich hatte viel Bekümmernis, Udo Zimmermann: Lieder von einer Insel 1: Ich hab im Traume geweinet (Heinrich Heine)

REFLEXION

Udo Zimmermann: Lieder von einer Insel 2: Reflexion (>Lieder von eine Insel, Ingeborg Bachmann<), Johann Sebastian Bach: Doppelkonzert BWV 1060, 1. Satz

VERSÖHNUNG

Udo Zimmermann: Lieder von einer Insel 3: Versöhnung (>Versöhnung, Else Laske Schüler<), Johann Sebastian Bach sein Doppelkonzert BWV 1060 für Violine + Oboe
3.Satz (>Indulgeam ubi est culpa<, Lass mich verzeihen, wo Schuld ist, Franz von Assisi)

AUFBRUCH

Udo Zimmermann: Lieder von einer Insel 4: Aufbruch, (>Hyperions Schicksalslied<, Friedrich Hölderlin), Johann Sebastian Bach: BWV 156, >Ich steh mit einem Fuss im Grabe<

ERINNERUNG

Udo Zimmermann: Lieder von einer Insel 5: Erinnerung,
Johann Sebastian Bach: Konzert für Oboe d’Amore, BWV 1055, 2. Satz

Das Gewandhausorchester unter der Leitung von Christoph Gedschold interpretierte die sehr unterschiedliche Musik der beiden Komponisten gekonnt mit viel Empathie und professioneller Präzision.

Die Solistinnen und Solisten im Orchester: Veronika Wilhelm, Violoncello, Yun-Jin Cho, Violine, Henrik Wahlgren, Oboe und Oboe D’Amore, Andres Otin Montaner, Oboe und Marianne Salmona, Continuo.

Die Solotänzerinnen und Solotänzer auf der Bühne: Marcos Vinicius da Silva, Laura Costa Chaud, Luke Francis, Oliver Preiss, Urania Lobo Garcia und Lou Thabart. Dazu die ganze Ballett Compagnie Leipziger Ballett.

Der tänzerische Ausdruck in diesem ersten Teil des Abends kann nicht genug hervorgehoben werden. Dies gilt nicht nur für die Solotänzerinnen und Solotänzer, sondern für jedes einzelne Mitglied des Leipziger Balletts.

Paul Zoller war für die Bühne, die Kostüme und die dramaturgisch hervorragend eingesetzten Videoeinspielungen in beiden Teilen des Abends verantwortlich. Ganz speziell erwähnenswertauch die Lichtführung, entworfen von Michael Röger. Das Licht-Design unterstützte optimal die zu tanzenden Emotionen und darzustellenden Gefühlswelten.

Im zweiten Teil des Abends, inszeniert Mario Schröder mit dem Ballett Leipzig die choreografische Uraufführung >Sinfonie der Klagelieder<.

Die Musik dazu: Henryk Mikolaj Gorecki > Sinfonie der Klagelieder, Op. 36<.

Der polnische Komponist verarbeitete darin im ersten Satz ein Klagelied Marias aus dem 15. Jahrhundert, im zweiten Satz ein Gebet aus der Zelle des Gestapo-Hauptquartiers und als Abschluss im dritten Satz ein Volkslied, in welchem eine Mutter ihren toten Sohn beklagt.

Die Solistinnen und Solisten im zweiten Teil des Ballettabends: Lou Thabart, Urania Lobo Garcia, Fang Yi Liu, Carl van Godtsenhoven, Anna Jo, Marcos Vinicius da Silva und Madoka Ishikawa.

Das gesamte Ballett Leipzig tanzt mit einer Hingabe an das Werk, welche tief berührt.

Die Choreografie Schröders und die Mantra-artigen Cluster der Komposition erlauben den Zuschauerinnen und Zuschauern ein starkes Erlebnis, ein sich Zurückbesinnen auf die eigene Befindlichkeit.

Nicht zu unterschätzen ist auch die herausragende Interpretation der Texte durch die Sopranistin Lenka Pavlovič, welche dank ihrer Intonation, Diktion und emotionalen Tiefe den Eindruck des Tanzes verstärken.

Die Stabführung von Christoph Gedschold lässt das Gewandhausorchester zu einer Glanzleistung der nicht einfach zu interpretierenden Komposition auflaufen.

Die drei Sätze von Góreckis Sinfonie:

1. LENTO

Sostenuto tranquillo ma cantabile >Klagelied aus dem Heiligkreuz Kloster aus den „Liedern aus Łysa góra“, Zweite Hälfte 15. Jahrhundert<

2. LENTO E LARGO

Tranquillissimo – cantabillissimo – dolcissimo – legatissimo >Gebet, an die Wand Nr. 3 der Zelle 3 im Keller des >Palace<, dem Gestapo-Hauptquartier in Zakopane; es trägt die Unterschrift:> Helena Wanda Błażusiakówna, 18 Jahre alt, in Haft seit dem 25. September 1944<

3. LENTO

Cantabile– semplice >Volkslied im schlesischen Dialekt der Gegend um Oppeln<

Die Choreografie von Mario Schröder bescherte dem zahlreich erschienenen Leipziger Publikum ein unvergessliches Erlebnis >GEGEN DAS VERGESSEN<

Dieses Publikum belohnte das gesamte Team auf und hinter der Bühne sowie das Gewandhausorchester und seinem Dirigenten mit einer lang anhaltenden Standing Ovation. Und dieser Applaus war mehr als verdient.

Peter Heuberger, Basel

Fotos © Ida Zenna