Paris: „Carmen“

Was hat die arme Carmen bloß angestellt, dass die Pariser ihr immer wieder das Leben so schwer machen? Die Uraufführung an der Opéra Comique am 3. März 1875 ging vollkommen schief ab dem dritten Akt und im vierten Akt verließ schon ein Teil des Publikums den Saal. Die Kritiken waren vernichtend. Le Siècle beschrieb „ein Delirium an Kastagnetten“ und Le Figaro beklagte „inkohärente Lumpen von Akkorden, unzusammenhängende Rhythmen und abgerissene Melodien“.

Der Komponist war so bestürzt, dass man sein „Meisterwerk“ nicht begriff, sodass er schwer krank wurde und drei Monate später – gerade 36 Jahre alt – schon verstarb. Georges Bizet erlebte es leider nicht mehr wie „Carmen“ noch im gleichen Jahr in Wien gespielt wurde (in einer neuen Fassung mit Rezitativen von Ernest Guiraud) und danach eine der beliebtesten Opern der Welt wurde. Aber nicht an der Opéra de Paris, wo das Werk bis heute einen schwierigen Stand hat. Für die Opéra Comique geschrieben – wo sie eigentlich auch hingehört – wurde „Carmen“ erst 1959 im Palais Garnier gespielt. Sie sollte das „Bugschiff“ des großen neuen (zweiten) Saals der Oper werden, der 1989 eröffneten Opéra Bastille. Doch bis jetzt sind dort alle neuen „Carmens“ kläglich gestrandet – was meist an den riesigen, pompösen und akustisch schwierigen Bühnenbildern lag.

So war es also eine logische Entscheidung für diese „Neu-Inszenierung“ die fast zwanzig Jahre alte Produktion von Calixto Bieto einzuladen, die schon überall auf der Welt, von Amsterdam bis San Francisco und von Barcelona bis Oslo, erfolgreich gespielt wurde. Die sehr bekannte Inszenierung – wir brauchen sie nicht noch einmal zu rezensieren – gehört sicher zu den besseren Arbeiten von Bieto und besticht durch ihre Einfachheit. Ursprünglich 1999 im Festival von Peralada unter freien Himmel aufgeführt, begnügt sich der Bühnenbildner Alfons Flores mit einem Fahnenmast, einer vergammelten Telefonzelle (in der Carmen vor ihrer Auftrittsarie schon temperamentvoll telefoniert), ein paar Zigeunerautos und einem riesigen Holz-Stier, so wie man ihn entlang der andalusischen Autobahnen sieht. Damit beweist er – so wie Peter Brook es schon 1981 in seiner unvergessenen Inszenierung getan hat – dass „Carmen“ sich ohne Bühnenbild viel freier bewegen kann. Eine andere markante Idee von Bieto war es, die ellenlangen gesprochenen Dialoge maximal zu kürzen. Das rafft die Handlung ganz erheblich: die Aufführung war fast eine Stunde kürzer als angekündigt.

Solch einfache Produktion lässt sich auch öfters spielen und so wurde eine für Paris ganz ungewöhnlich lange Serie angesetzt: 25 Vorstellungen vom 10. März bis zum 16. Juli (die für Jugendliche zugänglichen „Vorpremieren“ nicht mitgezählt). Dafür wurden zwei Dirigenten und fünf verschiedene Besetzungen engagiert. Es ist schön, dass man in diesem Rahmen auch junge Künstler engagiert. Doch wenn man sie damit überfordert und sie dem immensen Druck einer solchen Premiere nicht standhalten können, schadet man allen – vor allen den besagten Künstlern selbst, denen man danach oft keine zweite Chance mehr gibt. Das passierte nun dem kaum dreißig jährigen Dirigenten aus Nizza Lionel Bringuier, der kurz vor der Premiere das Handtuch warf , „aus persönlichen Gründen“, die ganz offensichtlich künstlerischer Natur waren. Er wurde in letzter Minute ersetzt durch Bertrand de Billy, ein alter Routinier, der „Carmen“ wahrscheinlich auch noch schlafend dirigieren kann.

So ungefähr klang der Abend aber auch: selten haben wir ein so uninspiriertes „Carmen“-Dirigat gehört. Das Orchester der Pariser Oper hatte sich auf den „automatischen Piloten“ eingestellt und blickte mehr zum Konzertmeister als zum Dirigenten, der mit seinen Gedanken offensichtlich anderswo war. Alle rhythmisch kniffeligen Momente – und davon gibt es einige – gingen ausnahmslos daneben. Der in Paris so hoch gelobte Chor der Oper war bei fast jedem Einsatz eine gute Sekunde zu spät und die interne Koordination zwischen den Stimmen war katastrophal schlecht. Da haben wir das gleiche Orchester und den gleichen Chor – auch in „Carmen“ – schon viel besser gehört.

Die Besetzung ist hochkarätig – zumindest auf dem Papier. Im Juni singt Anita Rachvelishvili, die erste Carmen von Lissners erster Spielzeit an der Scala 2009 und letzten Oktober eine ganz phantastische Dalila in Paris (siehe Merker XI/2016). Am 16. Juli folgt Elina Garanca und im April debütiert die junge Varduhi Abrahamyan. Für die Premiere hatte man verständlicher Weise eine junge Französin engagiert.

Clémentine Margaine hat eine überaus schöne Stimme, Talent, aber leider nicht genug Nerven. So wie man keine Sekunde glauben konnte, dass Elina Garanca im November auf dieser gleichen Bühne in einer neuen Rollen debütierte (siehe Merker XII/2016), konnte man jetzt einfach nicht glauben, dass Margaine Carmen schon überall auf der Welt gesungen haben soll, von München bis Sidney und von Rom bis Washington. Sie spielte überzeugend, aber ihr Gesang war genau so uninspiriert wie der Dirigent der vor ihr stand. Roberto Alagna kannte diese Produktion schon, denn er hat Don José seit fast dreißig Jahren schon überall auf der Welt gesungen – aber noch nie an der Opéra de Paris. Und gerade vor dieser für ihn so wichtigen Premiere wurde er krank. Als die Ansage kam, ging ein Kichern durch den Saal, weil viele Zuschauer irgendein „Tenormätzchen“ vermuteten. Doch nach den ersten gesprochenen Dialogen konnten alle hören, dass Alagna wirklich krank war und große Mühe hatte, um durch die Vorstellung zu kommen. Das gelang ihm dank seiner hervorragenden Technik. Er war einer der wenigen Sänger bei dem man wirklich jedes Wort verstand (singt man heute keine Konsonanten mehr?). Und auch „ohne Stimme“ wurde die fast gehauchte Schlussszene erstaunlich berührend. Dass Alagna so ergreifend spielte lag auch daran, dass er sich so überaus gut mit der Micaela von Aleksandra Kurzak verstand. Sie war vielleicht nicht die größte Stimme des Abends, aber – für unsere Ohren – die beste Musikerin. Sie hatte Stil und Feinfühligkeit, die dem gut aussehenden Escamillo von Roberto Tagliavini leider völlig fehlten.

Die Nebenrollen waren exzellent besetzt. Vannina Santoni und Antoinette Dennefeld waren als Frasquita und Mercédès überaus spielfreudig und sangen lupenrein (auch wenn der Chor hinter ihnen falsch sang). Das kann man auch von den ebenso sympathischen Boris Grappe und François Rougier berichten, die als Le Dancaïre und Le Remendado ein famoses Ganoven-Duo waren. François Lis ist in der Rolle des Zuniga gar nicht mehr weg zu denken, doch er scheint ihr nach so vielen Jahren immer noch neue Aspekte abzugewinnen, so wie der genauso überzeugende Jean-Luc Ballestra als Moralès. Als Gastwirt Lillas Pastia gab es in dieser Inszenierung einen alten Schauspieler aus Haiti, Alain Azérot, der schon während der Ouvertüre ein rotes Taschentuch aus seinen Ärmeln hervorzauberte. Die Inszenierung war besonders, aber eine gelungene Premiere war es bei weitem nicht (der Applaus war mäßig und der Dirigent & Regisseur wurden ausgebuht). Doch das kann sich – mit drei anderen Dirigenten – bis zum 16. Juli noch ändern. Und irgendwann wird es doch auch an der Pariser Oper einmal eine gelungene „Carmen“ geben. Wir sind gespannt!

Waldermar Kamer 11.3.2017

Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online

Bis zum 16. Juli an der Opéra de Paris (in wechselnden Besetzungen): www.operadeparis.fr