Paris: „Le bourgeois Gentilhomme“, Molière und Jean-Baptiste Lully

Endlich mal wieder das ursprüngliche Werk als „comédie-ballet“: ein vergnügliches Theaterstück von Molière, mit Tanz- und Ballett-Einlagen von Lully – gut gespielt und hervorragend dirigiert durch den jungen Théotime Langlois de Swarte.

(c) Stefan Brilon

Auf Deutsch kennen wir „Le Bourgeois Gentilhomme“ von Molière hauptsächlich als Theaterstück und in der Opernwelt als „Der Bürger als Edelmann“ von Richard Strauss (1912), der in der zweiten Fassung 1920 zu „Ariadne auf Naxos“ wurde. Doch nur wenige wissen, dass die 1919 davon abgetrennte „Orchester-Suite“ von Strauss mit neun „Tänzen“ (z.B. „Auftritt und Tanz der Schneider“) zurückgeht auf das, was „Le Bourgeois Gentilhomme“ 1670 ursprünglich war: kein Theaterstück, sondern eine „comédie-ballet en cinq actes“, ein Theaterstück, mit Tanz- und Ballett-Einlagen, die wesentlich länger waren als der gesprochene Text. Denn der „Sonnenkönig“ Ludwig der XIVe liebte es prächtig und bei den durch ihn bei Molière und Lully in Auftrag gegebenen Stücken tanzten er und der ganze Hof gerne mit. Das wurde auch in Frankreich vergessen, da der immer eifersüchtige Lully beim König erreichte, dass nur er und niemand anders in Frankreich mit mehr als neun Musikern auftreten durfte und Molière ihre gemeinsam erarbeiteten Stücke daraufhin nur noch ohne Tanz und Musik spielen konnte. Diese überlebten deswegen nur als reine Theaterstücke, bis man ganz vergaß, dass sie ursprünglich noch etwas Anderes gewesen waren. Meines Wissens wurde „Le Bourgeois Gentilhomme“ von Molière und Jean-Baptiste Lully 1990 zum ersten Mal nach über 300 Jahren wieder in Paris gespielt, am Châtelet durch William Christie, der mit seinem damaligen Regisseur Jean-Marie Villégier eine bahnbrechende Pionierarbeit geleistet hatte, drei Jahre nachdem sie mit dem unvergessenen „Atys“ von Lully die ganze heutige Barockbewegung in Frankreich eingeläutet hatten. Seitdem gibt es immer wieder neue Fassungen, die längste und orginaltreuste 2004 von Vincent Dumestre in einer „historischen“ Inszenierung von Benjamin Lazar. Doch diese, mit einer Spieldauer von über vier Stunden („gefühlt“ noch viel länger), konnte sich nicht durchsetzen, und seitdem gibt es Fassungen mit Strichen, wo Theater gespielt, gesungen und getanzt wird, ohne dass die Komik des Lustspiels in den teilweise recht langen Balletteinlagen verloren geht. Zu diesen gehört auch diese fröhliche „nur“ dreistündige Fassung von Marc Minkowski und Regisseur und Schauspieler Jérôme Deschamps, die seit ihrer Premiere 2019 in Montpellier schon in einem Dutzend Theatern in Frankreich gespielt wurde, und nach einem pandemiebedingten Aufschub mit drei Jahren Verspätung in der Opéra Comique gelandet ist. Ein vergnüglicher Abend!

(c) Stefan Brion

Die Handlung des Stückes braucht man wohl nicht mehr vorzustellen, aber wohl die sehr interessante Entstehungsgeschichte. Denn das Werk war ein „Racheakt“ des eitlen und reizbaren Ludwig der XIVe, nach dem prachtvollen Besuch des türkischen Botschafters Soliman Aga im November 1669. Dieser war mit einer davor und danach nie gesehenen Pracht in Versailles empfangen worden, wo der König sich vollkommen mit Diamanten und seinen Bruder sich vollkommen mit Perlen behängt hatten – was eine absolute Peinlichkeit wurde, als sich herausstellte, dass die französischen Diplomaten einen Übersetzungsfehler gemacht hatten und der angekündigte Botschafter kein „Elchi“, sondern ein ganz banaler Gesandter war. Der ganze Hof hatte sich „ridikülisiert“, was Soliman Aga höchst amüsiert nach Konstantinopel meldete. Ludwig der XIVe befahl daraufhin Molière, die Türken durch den Kakao zu ziehen – obwohl der bleibende Eindruck der berühmten „Ambassade du Grand Turc“ und der dabei entstandenen „Turcomanie“ gerade der Kaffee war, der bei dieser Gelegenheit in Frankreich introduziert wurde.

(c) Stefan Brion

Jérôme Deschamps hat einen vergnüglichen Abend inszeniert, in dem er auch endlich mal wieder als Schauspieler brillieren kann in einer Rolle, die Molière ursprünglich selbst gespielt hat. Denn der inzwischen 75-jährige war hier vor allem bekannt als Direktor der Opéra Comique von 2007 bis 2015. Er hat ein wirkliches Bühnenmétier und ist z.B. der einzige, bei dem man wirklich jedes Wort versteht. Komik beruht oft auf Rhythmus, und den beherrscht er perfekt und weiß nicht nur seinen Bühnenpartnern, sondern dem Publikum die Bälle zu zu werfen – das ihm mit einer großen Ovation dankte. Der zweite Star des Abends war der junge Dirigent Théotime Langlois de Swarte, den wir bisher nur als Geiger kannten und der mit nur 26 Jahren schon einige großen Plattenpreise bekommen hat. Er war ursprünglich nur für einige Vorstellungen angesagt, aber da Marc Minkowski wegen eines dummen Sturzes, bei dem er sich einen Arm gebrochen hat, absagen musste, übernahm er die ganze Serie und tat dies so brillant, dass dies wohl der Anfang einer Dirigenten-Karriere sein wird. Er führte die jugendlichen Les Musiciens du Louvre und L’Académie des Musiciens du Louvre teilweise geigend und wusste der mitunter etwas steifen Tanz-Musik nicht nur Frische, sondern auch betont viel Poesie einzuhauchen. Das Bühnenbild von Félix Deschamps, die Kostüme von Vanessa Sannino und die Choreographie von Natalie van Parys waren gut gemacht, aber eben für eine Reisevorstellung und ohne die höfische Pracht, die es bei der Uraufführung gegeben hatte, wo die damalige Ausstattung den ungeheuren Betrag von 49.404 Livres gekostet hatte – heute 1.104.000 €! Die Schauspieler waren tadellos: Josiane Stoleru (Madame Jourdain), Pauline Gardel (ihre Tochter Lucile), Aurélien Gabrielli (der Verlobte Cléonte, der sich als türkischer Botschafter verkleidet – die Rolle die Lully damals spielte), die freche Hausangestellte Nicole (Lucrèce Carmignac) und ihr Verlobter und Diener von Cléonte Vincent Debost, der auch noch den feschen Fechtmeister spielte. So spielte Guillaume Laloux, eigentlich Dorante, der das Geltungsbedürfnis von Monsieur Jourdain ausnutzt, um mit dessen Geld der Marquise Dorimène (Bénédicte Choisnet) einen kostspieligen Hof mit teuren Diamanten zu machen, auch noch den hochnäsigen Tanzmeister (maître de danse). Und Sébastien Boudrot war zugleich der Schneider und der Musiklehrer (maître de musique). Einen besonderen Erfolg hatte Jean-Claude Bolle Reddat als maître de philosophie – aber das ist auch der lustigste Text des Stückes mit dem berühmten auseinandergenommen Satz, den jeder (ältere) französische Schüler auswendig kennt: „Belle marquise, vos beaux yeux me font mourir d’amour“. Die jungen Sänger Constance Malta Bey, Nile Senatore und Lisandro Nesis waren gut, aber verblichen neben Jérôme Varnier, der mit le grand Moufti die größte Sängerrolle hatte und auch als Sänger am meisten Erfahrung mit Barockmusik hat.

(c) Stefan Brion

Zuletzt ein großes Bravo für alle Beteiligten, vor, auf, hinter der Bühne und im Saal. Denn leider kann man (wieder…) fairerweise keine Vorstellung in Paris mehr rezensieren, ohne zu erwähnen, in welchen Bedingungen die Theater zurzeit hier arbeiten (müssen). In der direkten Umgebung der Opéra Comique hat es eine Woche lang vor der besuchten Vorstellung jeden Tag und vor allem jeden Abend beträchtliche Unruhen gegeben. Am Vorabend musste deswegen sogar in letzter Minute die Vorstellung abgesagt werden, weil in der Rue St Marc neben der Oper ein solcher Brand ausgebrochen war, dass man in mehreren Häusern die Bewohner evakuieren musste. Und da dies nur ein Müll-Brand war von den 140 (!) an jenem Abend auf den Straßen in Paris und die überaus bewundernswerte Feuerwehr deswegen dementsprechend überfordert war und die Polizei sowieso auch (es wurden an dem Tag über 300 Polizisten in Paris verletzt), konnte die Sicherheit der Vorstellung nicht mehr gewährleistet werden. Was für alle Beteiligten natürlich eine bittere Enttäuschung war, denn viele Zuschauer waren lange Strecken zu Fuß gekommen, da die U-Bahn nicht mehr richtig funktioniert. In solchen Bedingungen eine reibungslose Vorstellung auf die Beine zu stellen, vor einem rammelvollen Saal mit 1.250 Zuschauern – das ist eine beachtliche Leistung für alle, die Oper weiter lieben – was auch passiert. Chapeau!

Waldemar Kamer, 27. März 2023


Le Bourgeois Gentilhomme

Text: Molière

Musik: Jean Baptiste Lully

Paris, Opéra Comique 24. März 2023

Dirigat: Théotime Langlois de Swarte

Inszenierung: Jérôme Deschamps

Les Musiciens du Louvre & L’Académie des Musiciens du Louvre