Marseille: „Moïse et Pharaon“, Gioachino Rossini

Konzertant 16. 11. 2014

Man kann dem Festival in Pesaro gar nicht dankbar genug sein: seit diesem Jahr sind alle 38 überlieferten Rossini-Opern aufgeführt worden und zum größten Teil auch (neu) editiert. Das war eine Mammut-Arbeit, von der seit 1980 die ganze Welt profitiert und die nun auch an immer entlegeneren Orten ihre Früchte trägt. So organisierte das Théâtre des Champs-Elysées in Paris diesen Frühling ein dreimonatiges Rossini-Festival mit bekannten und weniger bekannten Werken (siehe Merker VI/2014). Zu den Raritäten gehörten die „Seria“-Opern „Tancredi“ (1813) und „Otello“ (1816), der mit Cecilia Bartoli weiter zu den Pfingstfestspielen nach Salzburg reiste. Nun hat die Oper in Marseille eine andere Rarität auf den Spielplan gesetzt, „Moïse et Pharaon“ (1827), die zuletzt 2009 in Rom und an den Salzburger Festspielen gegeben wurde, unter Leitung von Riccardo Muti, der die Oper schon 2003 an der Scala (bzw dem Teatro degli Arcimboldi) wieder auf den Spielplan gesetzt hat. Wie man es auf dem DVD von dieser Produktion sehen und in allen Kritiken nachlesen kann, wurde keine der drei Inszenierungen als befriedigend empfunden und schrieben alle, dass bei einem solchen Werk eine Konzertfassung besser sei. Das hat sich die Opéra de Marseille zu Herzen genommen und vier konzertante Vorstellungen in dem großen, mit Marmor verkleideten Haus angesetzt. – Eine mutige Entscheidung, die mit einem dementsprechenden Erfolg bei Publikum und Presse belohnt wurde.

Doch es gibt – zumindest für Merker-Ohren – ein Problem: „Moïse et Pharaon“ ist kein einfaches Werk und es wurde offensichtlich durch die meisten Dirigenten/Interpreten bis jetzt noch nicht richtig erschlossen. Riccardo Muti hat die vergessene Oper angesetzt in seinem lobenswerten Bestreben, um als einflussreicher Musiker die Partituren „aus zu graben“, die er als Student in seiner Geburtsstadt Neapel in den dunklen Ecken der Bibliothek liegen sah. Zu denen gehörte auch „Mosè in Egitto“ von Rossini, 1818 ein großer Erfolg am Teatro San Carlo mit Isabella Colbran als Anaide und ab 1829 mehr oder weniger vergessen, weil Rossini inzwischen eine viel brillantere Fassung für die Pariser Oper geschrieben hatte. Doch „Moïse et Pharaon“ ist nicht nur eine neue Fassung, sondern Gattungsspezifisch eine ganz andere Oper als „Mosè in Egitto“, was Muti – und viele andere – bei allem Respekt nicht richtig begriffen zu haben scheinen (in Salzburg stand nicht eine Person auf der Bühne, die eine wirklich Ahnung von einer „grand-opéra“ hatte). Rossini leitete ab 1824 die „Italienische Oper“ in Paris, wo er pro Jahr bis zu 140 Vorstellungen seiner eigenen Werke gab, mit einem Bombenerfolg. Doch gleichzeitig träumte er von einer Karriere an der „großen Oper“ als offiziell anerkannter, „königlicher Komponist“. Dafür war er bereit, völlig umzudenken und hart zu arbeiten. Er, der in Neapel in wenigen Wochen eine neue Oper komponierte, brauchte in Paris manchmal mehr als ein Jahr für eine neue Komposition. Denn nicht nur die französische Sprache ist völlig anders als die italienische (Rossini zählte 14 Vokale im Französischen und fand die Konsonanten „schrecklich kompliziert“), sondern auch die ganze „noble Deklamation“. Auf das italienische „buffo“ und auf die vielen Koloraturen musste Rossini zum Beispiel ganz verzichten. Er wählte für seinen Erstling an der Grand Opéra ein politisches Sujet, passend zu dem damaligen griechischen Befreiungskrieg. Aus „Maometto secondo“ (Neapel, 1820) machte er „Le Siège de Corinthe“ (Paris, 1826) und wurde zum königlichen Hofkomponisten ernannt und zugleich auch zum „Inspecteur Général du Chant en France“. In dieser Position, mit einem jährlichen Gehalt von 20.000 Francs, hat Rossini stilbildend zu der Kodifizierung des französischen Gesanges beigetragen. Und auch zur Kodifizierung der „grand-opéra“.

Zur konzertanten Aufführung in Marseille

Für das Programmheft der Opéra de Marseille schrieb der Musikhistoriker Lionel Pons eine ausführliche Gegenüberstellung der beiden Opern „Moïse et Pharaon“ und „Mosè in Egitto“. Und daraus erschließt sich in einem Blick, dass es ganz unterschiedliche Werke sind. Aus der italienischen Ouvertüre von „Mosè“, mit einer Ankündigung der wichtigsten Motive und Melodien, wurde bei „Moïse“ ein „poème symphonique“, wie später bei „Guillaume Tell“ (1829). „Moïse“ bekam einen völlig neuen ersten Akt, indem die Vorgeschichte erzählt wurde von der Liebe eines Prinzen zu einer fremden Prinzessin und wie sie wegen der Staatsraison ihrer Väter auf ihre Liebe verzichten müssen. (Verdi hat das Schema übernommen für den vorgeschobenen „Fontainebleau-Akt“ seines französischen „Don Carlos“.)

Im zweiten Akt folgen die obligaten großen „entrées“ des Chores, im dritten das Ballett etc. Es ist schade, dass der Dirigent und die Besetzung – aus welchem Grund auch immer – diesen Artikel vom 21. Juli 2014 offensichtlich nicht gelesen haben (weil sie vielleicht mit ganz anderen Problemen zu kämpfen hatten?). Denn dann hätten sie manche Entscheidung vielleicht anders genommen. So wurde Vieles gestrichen, wie die ganze Ballettmusik (25 Minuten). Und in den vielen gattungsspezifischen Stylfragen (Portamento, Ornierung etc) waren keine einheitlichen Entscheidungen getroffen – jeder Sänger machte wie er wollte (oder konnte).

Auch wenn Paolo Arrivabeni keine besonderen Kenntnisse für die grand-opéra zeigte, dirigierte er souverän und hielt die großen Chor– und Orchester-Massen gut beieinander und hatte bei den vielen, rhythmisch oft nicht einfachen Ensembles seine neun Solisten gut im Griff. Ildar Abdrazakov und Jean-François Lapointe, beide mit wirklich internationalem Format, beherrschten als Moïse und Pharaon wie zwei Könige die Bühne. Abdrazakov hat den Moïse schon in Mailand, Rom und Salzburg mit Muti gesungen und ist zweifellos der aktuelle „Rollenträger“ (wie man es im Französischen sagt). Lapointe singt den Pharaon zum ersten Mal, doch er hat ein so großes „métier“, dass man das wirklich keine Sekunde hören konnte. Als dritten müssen wir Nicolas Courjal nennen. Er stand als Osiride und „voix mystérieuse“ fast ganz unten auf der Besetzungsliste, war aber als Sänger der dritte König des Abends – genauso beeindruckend wie in der grand-opéra „Herculaneum“ von Félicien David.

Enkelejda Shokoza hat den dramatischen Mezzo und die Koloraturen der Sinaïde, aber leider nicht alles zusammen. Sie kämpfte tapfer mit der wunderbaren Rolle. Annick Massis hatte das Vorrecht, um als Anaïde in die Spuren von Isabella Colbran zu treten, für die Rossini die schönste Rolle des Abends geschrieben hat. Sie tat es leider gut 25 Jahre zu spät und konnte mit ihrem inzwischen sehr breiten Vibrato nicht als junges Mädchen überzeugen. Lucie Roche war in dieser Konstellation nicht einmal halb so alt wie ihre „Tochter“, hatte aber als Mutter Marie einen wunderbaren Mezzo. Philippe Talbot (Améonophis) und Julien Dran (Eliézer) brauchten offensichtlich einige Zeit um sich einzusingen, waren aber nach der Pause genauso überzeugend wie ihr junger Kollege Rémy Mathieu in der kleinsten Rolle, Aufide.

Es ist eine beachtliche Leistung für ein so relativ „kleines“ Haus wie Marseille, um so ein großes Werk wie „Moïse et Pharaon“ reibungslos auf die Bühne zu bringen. Ohne die Vorarbeit des Festivals von Pesaro und den Einsatz von Riccardo Muti für dieses spezifische Werk, wäre dies wahrscheinlich gar nicht möglich gewesen. Doch da nun „Moïse“ endlich „ausgegraben“ ist, warten wir auf den Musiker der es auch wirklich wieder in seiner eigenen Sprache zum „singen“ bringt. Denn dann wird man erst verstehen können, was seine Zeitgenossen über den französischen Rossini geschrieben haben, unter ihnen auch Wagner, der Rossini in Paris ehrfurchtsvoll besuchte und Vieles von diesen Opern übernommen hat.

Bilder (c) Opéra de Marseille

Waldemar Kamer, Paris 17.11.2014

Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online

OPERNFREUND PLATTENTIPP

Leider sind die CD-Aufnahmen, wegen des absoluten Raritätencharkters, geradezu unverschämt teuer geworden, daher empfehlen wir hier eine DVD-Box, die für rund 50 Euro gleich noch zwei weitere Rossini-Aufnahmen beeinhaltet. PB