Florenz: „Candide“

Im Finalbild sieht man das, was der Regisseur Francesco Micheli im Programmheft so beschreibt: „La fabbrica è metafora del cosmo ove ogni cosa es ogni individuo sono parte di un meccanismo perfetto.“ Candide von Leonard Bernstein, in dem es um das Ideal einer besseren Welt geht, spielt in dieser Produktion des Maggio Musicale Fiorentino in der Fabrik einer riesigen Speditionsfirma (Amazon??). Die Chor- und Statisterie-Massen sind von Anfang einheitlich in blaue Overalls gekleidet, ein Teil marschiert schon während des Vorspiels durch den Zuschauerraum auf die Bühne, sie verschieben ständig riesige Container oder kleine und große Pakete in militärisch anmutender Aktivität – offensichtlich beherrscht der „Apparat“ das gesamte Geschehen. Die grell kostümierten Hauptdarsteller sind skurril agierende Marionetten, nie entsteht zwischen den Figuren eine menschlich-berührende Beziehung – alles wirkt automatenhaft. Und am Ende sind dann alle Protagonisten – außer Voltaire – endgültig gleichgeschaltet, tragen ebenfalls blaue Overalls und Kartons über dem Kopf und sind offenbar Teil des vom Regisseur intendierten „perfekten Mechanismus“ einer Fabrik geworden. Ob sich das der große Individualist und ekstatische Romantiker des 20.Jahrhunderts Leonard Bernstein so vorgestellt hat??

Eines allerdings überzeugt mich an diesem Abend uneingeschränkt: Der Dirigent John Axelrod koordiniert mit großen und klaren Gesten das

Orchestra del Maggio Musicale Fiorentino, den Chor und die Solisten und sorgt für stets spannungsvolles und mitreißendes Musizieren. Da erlebt man attackierenden Schwung ebenso wie wunderschöne zart-lyrische Passagen. Und gerade bei diesen lyrisch-schmachtenden – fast möchte man sagen: kitschigen – Abschnitten versagt das Regiekonzept. Dort, wo Bernstein gleichsam sein Herzblut hineinkomponiert hat, da passt die marionettenhaft-karikierende und maschinenhafte Personenführung ganz einfach nicht dazu. Die Inszenierung vermittelt mechanistisch-grellen Pessimismus – die überschäumende Freude, die im Stück liegt, konnte man nur musikalisch – und da primär im Orchester erleben. Die Sängerbesetzung war solid – aber nicht außergewöhnlich.

Laura Claycomb war eine sichere Cunegonde, die den Schlager „Glitter and be gay“ gekonnt servierte und schöne Spitzentöne hören ließ. Die automatenhafte Inszenierung nahm der Rolle allerdings den jugendlich-unbefangenen Charme und Reiz. Ihr Bruder Maximilian war mit Gary Griffiths ebenso solid besetzt wie die Paquette mit der quirligen Jessica Renfro. Die zentrale Rolle des Candide war dem Buffo-Tenor Keith Jameson übertragen.

Diese Rolle sollte man wohl eher mit einem lyrischen Tenor besetzen – so wie dies Leonard Bernstein selbst in seiner maßstabsetzenden CD-Aufnahme gemacht hatte. Keith Jameson hatte den naiven US-Boy-Charme, sang im Rahmen seiner Möglichkeiten sauber und blieb dennoch insgesamt recht blass. In zwei Partien waren große (Ex-)Stars der Opernszene aufgeboten: Chris Merritt war ein grandioser Governor mit großer Bühnenpräsenz und kräftiger Stimme.

Und die 75-jährige Anja Silja war die Old Lady. Vor vier Jahren von der Presse in Berlin in dieser Rolle noch hochgelobt, fehlte ihr diesmal allerdings ganz einfach das nötige Stimmvolumen, um auf der großen Bühne des neuen Florentiner Opernhauses zu bestehen, und es fehlte ihr auch das für diese Rolle nötige Contra-Alto -Timbre. Zu den ungezählten szenischen Anspielungen der Inszenierung zählte auch ein Plakat, auf dem Anja Silja mit den Wiener Philharmonikern unter Christoph Dohnányi angekündigt ist. Das überwiegend jugendliche internationale Publikum in Florenz wird diese Anspielung wohl kaum erfasst haben, so wie sicher auch ich viele der Regieeinfälle nicht verstanden habe. Mir blieb unter anderem verschlossen, warum Voltaire – durchaus virtuos deklamiert von Lella Costa – als Reinigungskraft mit Putzwagen auf Rollschuhen auftritt……

Das Publikum füllte das 1800 Plätze fassende prächtige neue Haus an diesem Abend wohl kaum zur Hälfte – und so war trotz des freundlichen Beifalls das nicht erreicht, was Verdi in dem im Opernfoyer prangende Zitat als Voraussetzung für „l’unica prova di un successo“ – den einzigen Beweis eines Erfolgs – bezeichnet: „La sala piena“ – der volle Saal!

Über das im Vorjahr eröffnete neue Haus schrieb klassik.com

„Florenz, 12.05.2014. Das neue Opernhaus von Florenz ist mit einer Opern- und Ballettgala unter der Leitung von Zubin Mehta eröffnet worden. Entworfen wurde das avantgardistische Gebäude von dem italienischen Dirigenten Paolo Desideri, an der Akustik der Konzert- und Opernsäle wirkten auch deutsche Experten mit. Der große Saal bietet 1.800 Gästen Platz, er wird bereits seit 2012 für konzertante Aufführungen genutzt. Die Arbeiten am Orchestergraben und der Bühnenmaschinerie sind nun abgeschlossen, ein weiterer Konzertsaal mit 1.000 Plätzen ist noch in Arbeit. Eine Besonderheit des Komplexes ist die "Cavea", ein Freiluftauditorium auf dem Dach über dem Opernsaal mit Platz für 2.200 Zuschauer. Zudem sind auch weiterhin Konzerte im Opernsaal geplant, für die eine mobile Orchestermuschel installiert werden kann. Der Neubau des Opernhauses wurde unter anderem von dem früheren Oberbürgermeister von Florenz und aktuellen italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi gefördert. Die Finanzierung der laufenden Kosten des Hauses gilt trotz der italienischen Wirtschaftskrise und Sparzwängen im Kultursegment als vorerst sicher.“

Wer Interesse hat, kann sich hier Fotos des prächtigen Hauses anschauen, dessen musikalischer Chef Zubin Mehta ist.

Hermann Becke, 6.6. 2015

Szenenfotos: © Opera di Firenze, Facebook

Interview und Probenarbeit mit John Axelrod hier