2016 präsentiert die Opera de Lyon das Festival pour l’humanite, dessen Wichtigkeit durch die Tragik der zeitgleich eingetretenen Vorfälle in Brüssel nur betont werden kann.
Zwei große Werke bilden den Rahmen dieses Festivals, zum einen die Grande-Opera "La Juive" von Fromental Halevy, zum anderen die Uraufführung von "Benjamin derniere nuit" mit Musik von Michel Tabachnik und einem Libretto von Regis Debray. Um das Fazit kurz vorzuziehen: Beide Stücke sind weitestgehend geglückt und lohnen den Besuch.
"Benjamin derniere nuit"
behandelt die letzte Nacht Walter Benjamins, einem deutschen Philosophen, der sich 1940 in Portbou auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus das Leben nahm. Als Rückblick begegnen ihm die wichtigsten historischen Personen seines Lebens. Zum Beispiel Hannah Arendt, Bertolt Brecht und André Gide, um nur einige davon zu nennen.Walter Benjamins Figur wird in zwei Personen geteilt, zum einen den "Sänger" Walter Benjamin (Jean-Noel Briend), zum anderen den "Comédien" (Sava Lolov).
Im Mittelpunkt der Inszenierung steht das Bett Benjamins. Darum ist sein Leben wie ein Warenlager aufdrapiert. Die gesamte Bühne ist vollgestellt mit Regalen aus denen seine Erinnerungen herausgezogen werden (Bühne: Michael Levine). Will Duke illustriert die Handlung zum besseren Verständnis mit Videos, die live projiziert werden. Die Kostüme von Christina Cunningham sind historisch gehalten und setzen als Kontrast dazu teilweise auch futuristische Aspekte. Insgesamt wird hier unter der Regie von John Fulljames ein Stück Theater geschaffen, das in seiner Geschlossenheit überzeugt und unter die Haut geht. Video, Kostüm, Sänger und Musik greifen hier ineinander und befruchten sich gegenseitig.
Dass der Abend (1h20) nur teilweise funktioniert liegt aber leider an der Komposition, die bis auf wenige Momente nicht aus der "Mottenkiste" der modernen Komposition herauskommt. So sind Cluster, Klanginstallationen und teilweise arg strapazierende Gesangsparts doch schon lange alter Kaffee und wissen leider weder besonders zu inspirieren. Noch erzeugen sie etwas anderes als Missbehagen. Ganz so schrecklich ist es dann trotzdem nicht. Einige Momente, besonders die jüdisch angehauchten mit dem Chor funktionieren als Einheit im Stück gut. Allerdings hätte man mehr erwarten können, sind doch gerade die Ansätze der Komposition interessant. Diese Ansätze werden bedauernswerterweise nicht zu Ende geführt – und so entsteht eine Eindimensionalität, die leider in der modernen Musik immer öfter zu finden ist.
Die musikalische Ausführung unter der Leitung von Bernhard Kontarsky bietet aber bewundernswertes. Die Sänger gehen beinahe alle an ihre vokalen Grenzen, trotzdem ist das Ensemble dieses Stückes geschlossen und auf höchstem Niveau.
Jean-Noel Briend ist quasi permanent auf der Bühne. Er hat nicht das angenehmste Timbre, aber seine Stimme schafft es über das teils sehr laute Orchester und ist sowohl in der Höhe als auch in der Tiefe sicher geführt. Zusammen mit seinem intensiven Spiel schafft er es, die Figur "greifbar" zu machen und war sich so auch den Akklamationen des Publikums sicher. Sein Gegenpart Sava Lolov bietet darstellerisch das gleiche Niveau und die beiden inspirieren sich gerade in den gemeinsamen Momenten gegenseitig zu großen szenischen Leistungen.
Michaela Kusteková als Koloratursopran wird permanent in die Höhe geschraubt, inklusive Balletteinlage und Olympia-Darstellung. Diese "Höhenflüge" von "Asja Lacis" meistert sie sicher, sauber und scheinbar unermüdlich.
Michaela Selinger gibt als "Hannah Arendt" das Gegenstück dazu und führt ihren warmen Mezzo-Sopran klangvoll und rund durch die kurzen Szenen ihrer Partie.
Charles Rice (Als einziger Sänger in beiden Produktionen zu sehen) singt mit einem verheißungsvoll-klangschönem Bariton "Arthur Koestler".
Die beiden Tenöre Jeff Martin und Gilles Ragon sind ebenfalls lobend zu erwähnen. Martin, der wegen der Lautstärke seiner Szene verstärkt werden muss schafft es im Sitzen als "Bertholt Brecht" die Trockenheit zu vermitteln, die die Partie verlangt. Ragon, der dem passionierten Opernliebhaber noch von vielen Minkowski und Christie-Aufnahmen bekannt ist (und dem deutschen Opernpublikum als Eléazar in Dresden), zeigt als "André Gide" dass die Stimme noch völlig intakt ist und mit großem Willen zur Interpretation selbst in kurzen Szenen großes leisten kann. Eine kurze, aber eindringliche Szene!
Beeindruckend sowohl physisch als auch stimmlich ist der Bass Scott Wilde als "Gerhom Sholem". Lyon scheint mit seinen Bässen im Moment Glück zu haben, da für beide Opern vorzügliche tiefe Stimmen zur Verfügung standen.
Jede einzelne der kleinen Rollen hier hervorzuheben würde zu weit gehen – aber alles in allem sei gesagt, dass auch diese hervorragend einstudiert und dargestellt waren. Ein Bravo für alle Akteure auf der Bühne.
"La Juive"
steht im Kontrast dazu. Die in den letzten Jahren wieder in Mode gekommene Oper (Mannheim, Nizza, Nürnberg, Dresden) steht auch hier musikalisch als Vorzeigestück seiner Gattung. Die Geschichte um den Goldschmied, der die Tochter seines mittlerweile zum Kardinal aufgestiegenen Rivalen aufzog, um diese dann mit sich gemeinsam in den Tod zu schicken ist intensiv und so nervenaufreibend wie es eigentlich nur ein Krimi sein kann.
Lyon hat mit Olivier Py eigentlich eine sichere Regie-Bank engagiert. Und dennoch will das ganze nicht aufgehen. Fünf Akte lang wird ein einziges Bühnenbild bespielt (Pierre-André Weitz, gleichfalls Kostüm). Trotz verschiebbarer Elemente ermüdet dies schnell. Und auch die Kostüme, welche fünf Akte nicht gewechselt werden erzeugen eine schnelle Monotonie. Angesiedelt wird das Stück in einem Wald, welcher gleichzeitig eine Bibliothek ist. Die Kostüme sind zeitlos-modern gehalten. Scheinbar scheint Py nicht viel eingefallen zu sein, denn die inszenierten Szenen sind allesamt nicht neu. So gibt es vom Chor getragene Plakate (Ausländer raus!), riesige Davidsterne und Bücherverbrennung. Alles gültige Interpretationen dieses Stückes – dennoch keine so radikal wie es das Stück gebraucht hätte. Es ist nur angedeutete Gewalt, wo doch das Stück vom Ertränken im See bis zur Hinrichtung im siedenden Wasser von weit grausameren Methoden spricht. Den Schritt aus einer ästhetisierenden hin zu einer unter die Haut gehenden Inszenierung schafft Py leider nicht.
Die musikalische Seite ist aufregender, aber leider auch durchwachsen.Besonders hervorzuheben sind als erstes zwei Leistungen: Zum einen der hervorragend von Philip White einstudierte Chor, welcher auch in "Benjamin" Großartiges leistet. Lange habe ich keinen so textverständlichen, dynamisch differenzierten und darstellerisch so harmonischen Chor mehr gesehen und gehört. Großes Bravo.
Zum anderen die fabelhafte musikalische Leitung von Daniele Rustioni. Dieser bürstet "La Juive" an einigen Ecken gegen den Strich. In den Rezitativen wird gesprochen (im positiven Sinne!) und nuanciert arbeitet er mit einem präzise geprobten Orchesterklang. Nie ist ein Sänger zugedeckt und dennoch schafft er es an den dafür vorgesehenen Passagen die nötige Wucht aufzudecken.
Die Sänger sind leider nicht durch die Bank weg so bravourös besetzt wie in "Benjamin". Gerade bei der Hauptpartie des Goldschmiedes Eléazar hat die Oper Lyon danebengegriffen. Nikolai Schukoff bietet hier mehr oder weniger Inakzeptables und das leider in jeglicher Hinsicht. Darstellerisch überzogen zeichnet er die Karikatur eines Juden – welche Eléazar doch genau nicht sein sollte. So erinnert sein Schauspiel an genau jene von den Nationalsozialisten gezeichneten Judenbilder, die man hier doch eigentlich versucht anzuprangern. Zusätzlich dazu ist der Gesang gequält. Die großen Stellen sind für ihn gekürzt (wo doch gerade die Damen überraschenderweise fast ungekürzt ihre Partien singen dürfen). Von den Eléazar-Tableaus ist bis auf die Arie nicht mehr viel übrig. Die Cabaletta ist gestrichen. Die hohen C’s der Partie werden allesamt ausgelassen und umgangen. Prinzipiell gilt leider auch zu sagen, dass kein einziger freier Spitzenton zu hören war – und in vielen Passagen die Stimme sogar gänzlich wegbrach. So erreichte er in der zweiten besuchten Vorstellung nur mit extremer Mühe das Ende der Arie. Sehr schade.
Die Titelrolle Rachel ist mit Rachel Harnisch auch nur teilweise idealbesetzt. Mit schöner lyrischer Stimme führt sie sicher und anrührend die großen Legatobögen ihrer Partie. Die Höhen gelingen allesamt anständig. Leider fehlt es ihr an entscheidenden Stellen an Attacke und oft wird die Höhe so angesungen, dass der Ton schon zu Ende ist bevor er überhaupt aufblühen konnte. Auch die Tiefe ist nicht ausreichend vorhanden. Aber dennoch funktioniert Harnisch als Interpretin. Eine sehr weiche Rachel, die gerade in den lyrischen Momenten zu überzeugen weiß und mit ihrer Darstellung alles in allem ein rundes Bild der Figur abgibt.
Besonders hervorzuheben sind zwei Sänger: Roberto Scandiuzzi als Cardinal Brogni, der die Rolle schon über zehn Jahre im Repertoire hat und Enea Scala als Leopold.
Scandiuzzi, welcher schon in Florenz zu begeistern wusste zeigt auch hier, dass die Stimme nichts an Schönheit eingebußt hat. Wundervoll rund und im absoluten Pianissimo zaubert er in beiden Vorstellungen eine mustergültige Arie im ersten Akt und bis auf sehr wenige angestrengte Töne in der Verfluchung im dritten Akt weiß er restlos zu begeistern. Selten habe ich von einem Brogni so saubere Koloraturen in den Duetten im vierten Akt gehört wie in Lyon.
Die Partie des Leopold gilt allgemein als unsingbar, brutal hoch und undankbar. Enea Scala hat die ideale Stimme dafür. Ein Rossini-Tenor, dessen Stimme gerade breiter wird, der sowohl die Höhe als auch die Dramatik der Partie hochanständig meistert. Die Stimme ist nicht besonders schön, aber mit absoluter technischer Sicherheit überzeugt er auf ganzer Linie. Jede hohe Note sitzt. In beiden Vorstellungen verrutscht nicht ein Ton. Hut ab.
Das gleiche gilt für die Eudoxie von Sabina Puértolas. Die Spanierin hat zwar "Caballe-ähnlich" eine gewisse Schärfe in der Mittellage, ist aber zu perfekt platzierten Spitzentönen und wunderschönen Piani fähig. Wieso Py sich entschloss die Sängerin drei Akte lang in einem Hauch von nichts über die Bühne hüpfen zu lassen bleibt mir schleierhaft. Wäre die Stimme etwas runder wäre auch diese Leistung perfekt zu nennen.
Überraschend dazu die kleinere Rolle des "Ruggiero", gesungen von Vincent Le Texier. Dieser ist zwar nicht mehr der jüngste, aber ist definitiv das größte Organ an diesem Abend auf der Bühne und schleudert so ein paar Töne in den Raum, die in ihrer Brutalität das Wesen seiner Figur ideal unterstreichen.
Charles Rice singt auch wie in "Benjamin" sehr anständig mit sehr schöner Stimme die kurzen Phrasen von "Albert".
Die kleinen Rollen sind sehr schön und textverständlich aus dem Chor besetzt.
Die eigentlich über fünf Stunden dauernde Oper wird hier in Lyon auf etwas unter vier Stunden (inklusive Pause) zusammengekürzt. Dennoch ergibt sich hier eine Schwere – und zwar nicht unbedingt eine gute. Man hat sich zu schnell satt gesehen. Glücklicherweise gibt es aber die geniale Musik von Halevy – und die entschädigt für die Wüste der Regie.
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Insgesamt zwei sehr interessante Produktionen eines sehr zu begrüßenden Festivals. Lyon zeigt hier zwar keine Sternstunden, aber durchaus anständige Opernproduktionen in mehr oder weniger toller Besetzung. Gerade "La Juive" wieder öfter im Repertoire zu begegnen ist und bleibt eine Freude.
Thomas Pfeiffer, 25.3.2016
Fotos (c) Stofleth